Foto Skizzen, Kommentare, Überlegungen von Assoc. Prof. Dr. Andreas Becker, Tōkyō. Über diese Seite
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2023.06.25

Vincenzo Bellinis Oper La sonnambula (1831)

2023.06.24

Kirk Douglas und der rettende Zufall

In seiner ersten Autobiographie The Ragman's Son berichtet Kirk Douglas von einem sein Leben rettenden Rat seiner Frau Anne:
„March 22, 1958. Anne and I were driving back from Palm Springs in deafening silence. We had been arguing for several days. I had wanted to go on a junket to New York with Mike Todd and some of the boys; Anne didn't want me to go. She didn't object to my taking the trip, but to my flying in Mike's private plane. Anne insisted I fly a regular commercial airline and meet them in New York. [...] I had been on the verge of ignoring her and just telling her that I was going anyway. But I didn't go. I fumed instead. Liz Taylor, married to Mike Todd, had a bad cold and didn't go either. I turned on the car radio to drown out the silence. It was like a bad plot device in a B-movie: my hand left the knob just as the announcer broke in with a newsflash - Mike Todd was dead. His private plane crashed. Everyone on board was killed.“
(Aus: Kirk Douglas: The Ragman's Son. An Autobiography, New York u.a. 1988, S. 306)
Man kann sich fragen, wie so etwas geschieht. Da gibt es doch mehrere Kausalitätslinien, die unterlaufen werden. Anne hatte offenbar eine Ahnung. Aber Kirk folgt ihr widerwillig. Er vertraut ihrer Intuition also. Auch Elizabeth Taylor entging dem Schicksal, weil sie eine Erkältung hatte. In diesem Fall wussten die drei im Nachhinein, welcher Tragödie sie entgangen sind. Aber wie viele solcher Zufälle gibt es, von deren tragischem Ausgang wir nicht erfahren?
Liz Taylor und Filmproduzent Mike Todd mit Tochter Liza, 1957 [Link]
Kirk Douglas als Spartacus [Link]

„A black hole has no hair.“ Über die Entstehungsgeschichte des Begriffs Schwarzes Loch im Jahr 1967

Der Erfolg der Physik liegt nicht nur in der Weise, wie diese Disziplin die Natur zu mathematisieren in der Lage ist. Er besteht auch darin, dass die Physiker es vermögen, Bilder zu finden, Illustratoren zu begeistern, Science-Fiction-Autoren zu inspirieren, aber auch selbst Metaphern zu kreieren. Irgendwann wird es poetisch. So geschah es auch beim Terminus Schwarzes Loch, dessen Schöpfung man in die Hippie-Zeit New Yorks, auf das Jahr 1967 datieren kann. Der theoretische Physiker John Archibald Wheeler berichtet in seiner Autobiographie darüber:
„In the fall of 1967, Vittorio Canuto, administrative head of NASA's Goddard Institute for Space Studies at 2880 Broadway in New York City, invited me to a conference to consider possible interpretations of the exciting new evidence just arriving from England on pulsars. What were these pulsars? Vibrating white dwarfs? Rotating neutron stars? What? In my talk, I argued that we should consider the possibility that at the center of a pulsar is a gravitationally completely collapsed object. I remarked that one couldn't keep saying "gravitationally completely collapsed object" over and over. One needed a shorter descriptive phrase. "How about black hole?" asked someone in the audience. I had been searching for just the right term for months, mulling it over in bed, in the bathtub, in my car, wherever I had quiet moments. Suddenly this name seemed exactly right. When I gave a more formal Sigma Xi-Phi Beta Kappa lecture in the West Ballroom of the New York Hilton a few weeks later, on December 29, 1967, I used the term, and then included it in the written version of the lecture published in the spring of 1968. [...] By now every schoolchild has heard the term. Richard Feynman, when he saw the term, chided me. In his mind, it was suggestive. He accused me of being naughty. In fact, the name black hole has a lineage. That's why ti caught my fancy. Since at least the 1890s, the term "black body" has been used in physics to describe an idealized body that absorbs all radiation that falls upon it, and emits radiation at the maximum rate possible for a given temperature. The black body is a perfect absorber and as perfect an emitter as it is possible to be. A black hole has one of these characteristics, but not the other. It absorbs everything that falls upon it. It emits nothing. [...] Several years later, Feynman called my language unfit for polite company (well, actually, he called it obscene) when I tried to summarize the remarkable simplicity of a black hole by saying, "A black hole has no hair." I guess Dick Feynman and I had different images in mind. I was thinking of a room full of bald-pated people who were hard ot identify individually because they showed no differences in hair length, style, or color. The black hole, it has turned out, shows only three characteristics to the outside world: Its mass, its electric charge (if any), and its angular momentum, or spin (if any). It lacks the "hair" that more conventional objects possess that give them their individuality.“
Aus: John Archibald Wheeler: Geons, Black Holes and Quantum Foam. A Life in Physics, New York u.a. 1998, S. 296-297.

2023.06.22

Lichtenberg. Sudelbücher-Kommentar 03

„Der Mensch ist vielleicht halb Geist und halb Materie, so wie der Polype halb Pflanze und halb Tier. Auf der Grenze liegen immer die seltsamsten Geschöpfe.“
Aus: Georg Christoph Lichtenberg (1994) [1968]: Sudelbücher I, Schriften und Briefe. Erster Band, hrsg. von Wolfgang Promies, Frankfurt am Main: Zweitausendeins, S. 254, D 161.

Normalerweise misst man innerhalb einer einheitlichen Ordnung/Substanz. Wenn aber Lichtenberg schreibt, der Mensch sei „vielleicht halb Geist und halb Materie“, so erfolgt die Messung zwischen zwei vollkommen unterschiedlichen Ordnungen. Was soll das heißen, dass der Mensch halb Geist sei? Ist die Hälfte seiner Materie Geist? Geist und Materie werden üblicherweise als Gegenpole gedacht, nicht so in dieser Überlegung. Sie zwingt, Geist und Materie zu verbinden, zu hybridisieren. Damals wusste man noch nicht so viel über Quallen, die aus den Polypen hervorgehen und eine Metamorphose betreiben, die sich mal durch Knospung vermehren und die im Stadium der Qualle geschlechtlich sind [Link]. Es rankten sich im 18. Jahrhundert noch so manche Abenteuergeschichten um diese Meeresbewohner (siehe dazu den Eintrag Polypus in Zedlers Universallexicon [Link]). Man könnte sagen, dass diese Art von Hybridität und Wechsel der Lebensform keineswegs so selten ist. Adjektive zum Beispiel können aus Verben gebildet werden (der gehende Mensch), sie können zum Nomen werden (das Grün). Der Mensch als Grenzgeschöpf ist wie die Qualle beides nacheinander ist zugleich. Er ist physisch und geistig, kann aber seine Conditio humana nie einheitlich bestimmen.

Überlegungen zum Nichts

Das Nichts wird in der europäischen Philosophie gewöhnlich als Negation des Etwas verstanden bzw. vom Seienden aus gedacht. Immanuel Kant etwa beschreibt es in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft als leeren Begriff ohne Gegenstand, leeren Gegenstand eines Begriffs, leere Anschauung ohne Gegenstand und leeren Gegenstand ohne Begriff [Link]. Georg Wilhelm Friedrich Hegels Dialektik arbeitet in der Phänomenologie des Geistes mit der Figur des Negativen. Aber das geht dann auch wieder davon aus, dass es eine Symmetrie zwischen Substanz und Negativem gäbe. Das ist aber eine Annahme, die nicht bewiesen werden kann. Sicher kann man sagen, dass das Nichts unlokalisierbar und unquantifizierbar ist und keine Qualität hat. Es ist nicht positiv fassbar. Seine Ortlosigkeit und Eigenschaftslosigkeit zwingt dazu, eine völlig neue Denkungsart zu entwickeln. Man kann das Nichts vielleicht rahmen, ihm Effekte zuweisen. Dass es das Nichts geben muss, ist aber klar, denn das Etwas ist nur in Relation zu einem Abwesenden zu denken. Aber sobald dieser Hintergrund wieder thematisch wird, entsteht das logische Problem der Unerfassbarkeit des Nichts als Nichts erneut. Die japanische Kultur hat zwar eine Praxis des Nichts, des Leeren entwickelt, aber nur wenige, etwa Kitarō Nishida, haben dies philosophisch gedacht. Es gibt einen Begriff für Nichts im Japanischen, mu 無.

2023.06.19

Glühwürmchen-Utopie

Gestern im Hiromachi Ryokuchi-Park in Nishi-Kamakura gewesen [Link]. Dieser Park ist eine einzige Utopie. Eine Gemeinschaft legt ihn an, lässt Glühwürmchen dort leben. Am Abend pilgern Familien mit Kindern dorthin und schenken diesen schöne Erlebnisse. Dazu gibt es zahlreiche seltene Pflanzen dort und auch kleine Übungs-Reisfelder. Sommerwind. Die Grillen zirpen. Stille.

2023.06.15

Over the Rainbow Improvisation

... gespielt auf dem Ipad mit dem DRC-Synthesizer [Link], Theremini Patch.
[MP3]

2023.06.13

Lichtenberg. Sudelbücher-Kommentar 01

„Eine ganze Milchstraße von Einfällen.“

Aus: Georg Christoph Lichtenberg (1994) [1968]: Sudelbücher I, Schriften und Briefe. Erster Band, hrsg. von Wolfgang Promies, Frankfurt am Main: Zweitausendeins, S. 704, J 344.

Als Lichtenberg lebte, im 18. Jahrhundert, sah man die Milchstraße noch. Es gab keine Elektrizität und keine Lichtverschmutzung. Abends konnte man bei Kerzenschein lesen oder blickte draußen in die Dunkelheit. In sternenklaren Nächten sah man die Milchstraße. Interessant ist die Verbindung des Kosmos mit dem Denken. Lichtenberg schrieb das Heft J aus den Sudelbüchern im Jahr 1789. Ein Jahr vorher schrieb Immanuel Kant in der Kritik der praktischen Vernunft: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ (Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 7, Frankfurt am Main 1977, S. 300.)
Bei Kant und Lichtenberg geht es um eine Korrespondenz des Äußeren mit dem Inneren. Während Kant auf die Gesetzmäßigkeit abhebt, geht es Lichtenberg um das Unkontrollierte, Unzählbare, Erhabene des Weltalls. Mich erinnert die Verbindung Einfall-Milchstraße auch an Kometen und Meteore, die von der Erde aus sichtbar sind. Er fasst die Unendlichkeit als etwas Positives auf. Darin liegt ein großes Vertrauen in die menschliche Kreativität. Der Mensch kann so viele Ideen im Inneren erzeugen wie es Sterne in der Milchstraße gibt. Lichtenberg versteht den Menschen also nicht als Gegenpol zum Kosmos, sondern der Kosmos ist in uns. Das ist sehr poetisch. Anselm Kiefer hat diese Überlegung Kants in seinem Druck Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir (1997) künstlerisch verarbeitet. [Link]

Lichtenberg. Sudelbücher-Kommentar 02

„Als ich im Frühling 1792 an einem sehr schönen Abend am Gartenfenster lag, das etwa 2000 Fuß von der Stadt entfernt ist, war ich begierig zu hören, was nun von dem berühmten Göttingen noch zu meinen Ohren herüber kam, und das war
1) das Rauschen des Wassers bei der großen Mühle
2) das Fahren einiger Wagen oder Kutschen
3) Ein sehr helles und emsiges Schreien von Kindern vermutlich auf der Maikäfer-Jagd auf dem Walle
4) Hundegebell in allerlei Distanzen und mit allerlei Stimmen und Affekten
5) 3 bis 4 Nachtigallen in den Gärten nah bei oder in der Stadt
6) unzählige Frösche
7) das Klirren geworfener Kegel und
8) ein schlecht geblasener halber Mond der von allem das Unangenehmste war.“


Aus: Georg Christoph Lichtenberg (1994) [1968]: Sudelbücher I, Schriften und Briefe. Erster Band, hrsg. von Wolfgang Promies, Frankfurt am Main: Zweitausendeins, S. 794, J 1004.

Was ich so faszinierend an dieser Beobachtung finde, ist ihr Dokumentarismus. Wir kennen zahlreiche Beschreibungen der Natur aus der Zeit der Aufklärung, die aber meistens angeordnet und nach einer Empfindung gewichtet sind. Dass sich hier jemand hinsetzt und einfach mal seine Höreindrücke bei Abenddämmerung aufschreibt, so ephemer und zufällig sie scheinen mögen, ist unglaublich. Man bekommt tatsächlich einen Eindruck aus dieser Zeit, viel besser in Form dieser Liste als wenn jemand poetisch die alltägliche Szenerie erfassen wollte. So als ob Lichtenberg einen Audiorecorder aufstellt und wir ihn hören.
Was zunächst auffällt, ist der andere Klang der Stadt. Sie klingt wie ein Dorf. Es gibt irgendeine Systematik darin. Die Nachtigallen, die Frösche, die Kinder. Warum sie zugleich erklingen, darin verbergen sich Geschichten und Ordnungen. Es ist nicht nur die menschliche Alltagsgeschichte, sondern auch die Naturgeschichte, die hier aufgezeichnet wird. Die Nachtigall klingt in Japan ganz anders und vielleicht sang auch die Lichtenbergsche Nachtigall anders als unsere heutige. Diese Frage kann man zu Recht stellen. Lichtenberg also ist ein Chronist des Alltags, er wendet die wissenschaftliche Methode der Vermessung auf diesen an. Er registriert, was er hört, macht aus dem Hintergrund den Vordergrund und widmet dem scheinbar Beiläufigen seine Aufmerksamkeit.
Schön ist auch, dass er sich auf ein Sinnesfeld konzentriert. Was die Kinder spielen, warum wir die Kegel hören und jemand auf dem ‚halben Mond‘, einem einfachen Blasinstrument, spielt, wissen wir nicht. Ist es ein Signal? Schön auch die Adjektive. Neben der Beschreibung selbst macht Lichtenberg transparent, wie die Sprache das Medium des Hörens erfassen kann. Gerade auch das Dissonante interessiert Lichtenberg und weckt ihn aus der deskriptiven Träumerei auf.
Gartenfenster: Heute Am Leinekanal

2023.06.12

Regen in Tōkyō

Hier zwei Aufnahmen des abendlichen Regens in Tōkyō, ca. 22.45 Uhr. Das Geräusch hat eine wellenartige Rhythmik, die ich in dieser Stärke in Deutschland nicht wahrgenommen habe.
[MP3][MP3]

2023.06.11

Karl Marx und Friedrich Engels über den Begriff der Ideologie

Marx und Engels schreiben 1845/46 dazu: »Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen.« (Karl Marx und Friedrich Engels: Deutsche Ideologie (1845/46), MEW, Bd. 3, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1978, S. 9-530, zit. S. 26)

Der Klinkenstecker. Ein Dinosaurier aus der Urzeit der Technik

George W. Coy gilt als Erfinder des Klinkensteckers: »Die weltweit erste Telefonzentrale wurde am 28. Jänner 1878 in New Haven (Connecticut, USA) eröffnet, zwei Jahre nachdem Alexander Graham Bell das Telefon erfunden hatte. George W. Coy entwarf und baute diese erste Fernsprechvermittlungsstelle für den kommerziellen Einsatz. [...] Den anfangs 21 angeschlossenen Teilnehmern standen acht Telefonleitungen zur Verfügung, die von Coy persönlich mittels 1/4-Zoll-Klinkensteckern (6,35 Millimeter) eingestöpselt wurden. Ein aufleuchtendes Licht am Schaltbrett zeigte einen eingehenden Anruf an, durch Nutzung des Klinkensteckers konnte Coy diesen annehmen und mit dem gewünschten Gesprächspartner verbinden.« [Link] Es ist faszinierend, dass diese Erfindung der rasanten technischen Evolution trotzte und noch heute bei Gitarren und Kopfhörern der Standard ist. Wie gründlich durchdacht ist dieser Stecker, wie robust!

2023.06.08

NATO Manöver Air Defender 23

Bald übt die NATO den Krieg. Auf der Seite der Bundeswehr heißt es: »Die Übung Air Defender 23 ist die größte Verlegeübung von Luftstreitkräften seit Bestehen der NATO. Sie demonstriert Solidarität im Bündnis und transatlantische Verbundenheit: Vom 12. bis 23. Juni trainieren bis zu 10.000 Übungsteilnehmer aus 25 Nationen mit 250 Luftfahrzeugen unter der Führung der Luftwaffe Luftoperationen im europäischen Luftraum.« (Homepage der Bundeswehr) Mulmig ist mir deshalb zumute, weil auch der Ukraine-Krieg als Manöver begann. Das Kriegsgerät ist vor Ort, das führt immer zur Bedrohung und erhöht die Möglichkeit von Konflikten. Der Kachowka-Staudamm ist zum Teil zerstört. Was passiert mit dem AKW Saporischja?

Drone-Sound und Gitarre

Drone Sound (auf G), generiert mit Mononoke für Ipad und Gitarre.
[MP3]

Drone-Sound und Korg monologue

Drone Sound (auf G), generiert mit Mononoke und TC-11 für Ipad.

Korg monologue, analoger Synthesizer, Sequencer Test.

Drone Sound und Beats von Garageband

Aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Artikel 48 - Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte
(1) Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig. (2) Jedem Angeklagten wird die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet. [Link]

2023.06.06

Über die Ausbreitung und Dynamik von Ideologien

Ideologien werden nicht gelehrt, so wie man Wissen lehrt. Sie sollen auch nicht verstanden werden oder in ihren Prämissen transparent sein, sondern sich implizit ausbreiten, und zwar entlang von imaginierten Grenzlinien der Haltung. Wie aber bringt man Menschen dazu, mit einer Haltung auch eine bestimmte Wissensform anzunehmen? Der übliche Weg ist der einer Belohnung bei Eintritt in die und Arbeit in der Gruppe. Die Gruppe erntet Konformität für die bloße Mitgliedschaft in ihr. Die stillschweigende Bedingung der Aufnahme ist ein Opportunismus im Hinblick auf eine bestimmte Sichtweise, eine Haltung, mitunter eine Weltanschauung.
Das Weiterkommen innerhalb der Gruppenhierarchie ist dann gestaffelt und reglementiert. Man gelangt nur in höhere Position oder darf die Arbeit nur fortsetzen, wenn man die mit der Wissensform verbundene Haltung und Anschauung übernimmt. Man muss so sprechen wie die Gruppe, ähnliche Auffassungen übernehmen, das Erscheinungsbild anpassen und auch so fühlen wie diese. Niemand reflektiert darüber. Es kann sehr angenehm sein, weil man sich der Bestätigung der Anderen sicher ist, wenn man die goutierte Haltung zeigt. Man kann das mit dem Aufsetzen einer farbigen Brille vergleichen. Alle tragen diese Brille und sehen nur bestimmte Farben. Die Gratwanderung besteht darin, es nicht zu einem Diskurs über die Prämissen kommen zu lassen, diese sollen und dürfen nicht verbal expliziert werden. Die Farbigkeit der Brille muss unthematisch bleiben, obwohl sie sich überall zeigt. Man darf die Brille nicht absetzen. Das führt dazu, dass die Ideologien sich auf einfache Weltanschauungen reduzieren lassen, die meistens entlang von Freund-Feind-Schemata verlaufen. Es gibt dann die Guten und die Bösen, ganz kindliche Auffassungen, die aber mit einer ungeheuren denkerischen und dichterischen Energie angereichert werden zu intellektuellen Systemen, die sich den Anschein einer Offenheit und Transparenz geben. Oft gibt es neben diesen impliziten Verfahren scheinbare Foren, Abstimmungs- und Sondierungsregeln, ganze Regelwerke von Verfahrensweisen. Diese entscheiden aber nicht über die wichtigen Aspekte, sondern dienen nur der Legitimierung nach außen.
Indirekt kann man schon erkennen, wo die Linien verlaufen, nämlich daran, wer nicht zitiert, diskutiert und eingeladen wird. Auch über bestimmte Themen wird sich nur sehr grob verständigt. Sehr häufig entstehen ganz offensichtliche logische Widersprüche in den Ideologien und Haltungen, deren Aufzeigung aber ausgeblendet, vermieden oder gar bekämpft wird. Wer die Logik einfordert, dem wird mit einer Art von Meta-Logik, einer Über-Prämisse, letztlich einer bestimmten Macht oder gar dem Staat gedroht.
So lange man Posten zu vergeben hat, entstehen Dynamiken und die Ideologie pflanzt sich fort, auch jenseits der Institutionen, bis in das Privatleben hinein.
Ideologien kalibrieren die Gefühle und Haltungen. Man kann dies mit dem Stimmen eines Instruments vergleichen. In einer bestimmten Tonskala können auch nur bestimmte Tonfolgen, d.h. Melodien, gespielt werden. Ein Neustimmen der Gefühle, ein Umpolen und Wechseln ist prinzipiell möglich, wird aber von der Gruppe als Verstoß wahrgenommen. Außerdem weisen Menschen nur eine einzige Gefühlswelt auf. Diese kann verschoben werden, verzerrt und gekrümmt, aber sie kann nicht verdoppelt werden. Eine Verdopplung gibt es nur dem Scheine nach. Man kann sich theatral in verschiedene Rollen versetzen, identifiziert sich aber nicht mit diesen und könnte es auch nicht willentlich. Die Ideologien also entstehen an den losen Rändern von Gefühlswelten. Es sind dies Kopplungen von Pseudo-Theorien mit bestimmten Haltungen, die sich bereits vorher stratifiziert haben, in der Ideologie aber zugerüstet und gepanzert werden. In der Gruppe meint man dann, bei einem bestimmten Signal, bei einem Ereignis etc. handeln zu müssen. Von außen wirkt das irritierend, aber in der Ideologie sind Wissen und Gefühlsorientierung verschmolzen. So wie Eltern aus einer Haltung heraus Kinder erziehen, so erziehen Institutionen, Parteien, Vereine und Firmen bestimmte Gruppen mit Ideologien. Es verstärken sich Haltungen. Probleme entstehen, wenn gesellschaftliche Veränderungen eintreten, die eine Neuorientierung, eine Infragestellung der Haltung und daher der Ideologie erfordern. Dann bilden sich Zonen der Gewalt, weil man nicht bereit ist, die eigenen Prämissen in Frage zu stellen. Die Gewalt entsteht innerhalb der ideologischen Gruppe und richtet sich gegen bestimmte Menschen, die man als Vertreter einer Haltung außerhalb der Gruppe ausgemacht hat. Erstaunlicherweise wird diese Selektion, die Abgrenzung und mitunter Konfrontation nicht als Defizit der Ideologie verstanden, sondern als notwendig, wenn diese im Vollzug steht.
Heute haben wir es mit einer inflationären Zunahme von ideologischen Haltungen zu tun. Diese werden mitunter patchworkartig kombiniert und sind disparat. Der eigenen Bekundung nach geht es um eine Verkörperung dieser Haltung, die oftmals mit der Moral verschmilzt. Aber nimmt man eine leichte Verschiebung vor, so bemerkt man, dass die Annahme einer Ideologie eine sehr einfache Form ist, Aggressionen Abfuhr zu verschaffen. Die Haltung ist nicht stimmig. Sie funktioniert nur innerhalb eines bestimmten Milieus, außerhalb desselben wirkt sie mitunter komisch. Daher sind ideologische Gruppen auch bestrebt, ähnlich wie Sekten, nur bestimmte Menschen überhaupt zuzulassen, die Begegnungsmöglichkeit und den sozialen Horizont einzuschränken. Sie tun mitunter so, als sei dies adlig. Man gehört dazu.

2023.06.04

Morgen via Zoom: Michael Stavarič: Zoom-Lesung und Gespräch

Bild
Michael Stavarič: Zoom-Lesung und Gespräch: Die Kluft zwischen Liebesroman und Kinderliteratur - zwischen den unmoralischen Aspekten von Böse Spiele und den moralischen Aspekten in Die Menschenscheuche
Mo., d. 5. Juni 2023, 19.30-21.00 Uhr, Tōkyō-Zeit. Weitere infos auf [Link]

Roland Kovac und der Sound der 1960er/1970er Jahre

Dieser Tage sah ich Herbert Veselys und Peter Schamonis Film Deine Zärtlichkeiten (1969). Der Film handelt von der Geschwisterliebe und folgt den Liebenden in ihren Gefühlen. Großartiges Schauspiel von Doris Kunstmann, Ulli Lommel und Bernhard Wicki, das Drehbuch ist von Esteban López. Kamera: Michael Ballhaus, da kann nichts schiefgehen. Aber die Musik ist auch sehr schön. Roland Kovacs jazziger Popsound, klingt sehr unbeschwert und einfach, zitiert aber Jahrhunderte Musikgeschichte.

2023.06.02

Taifun Nr. 2 in Tōkyō

Gerade zieht ein stattlicher Taifun über Tōkyō hinweg. Die Lautsprecheransagen weisen schon (wie immer in Japan sehr früh) auf steigende Wasserpegel hin. [Link Asahi Shinbun] [Link Wetteronline]

2023.05.24

Großartige Performance von Tommy Emmanuel

2023.05.22

Neuer Song

Helicopter One. Broken Wings

2023.05.21

Stefan Becks Das Seminar

Schön, dass es Stefan Beck und diese Sendung gibt!

2023.05.17

TC-11

Erste Klangexperimente mit Kevin Schleis [Link] TC-11-Synthesizer für Ipad [Link].

2023.05.16

Charles Trenet

»La mer. Des reflets changeants«. Charles Trenet La mer (25. März 1946)

2023.05.15

Mensch und Institution. Abstrakte Sympathien und Animositäten

Menschen bewegen sich in Institutionen. Sie sind Vertreter der Institution, wenn sie diese leiten oder in organisatorischer Funktion derselben auftreten. Dadurch ändert sich ihr Verhalten notwendigerweise. Sie müssen den Geist der Institution vorahnen und ihm gemäß handeln und sprechen. Ihr privates Gefühl kann sich nur innerhalb der Spielräume der Institution äußern. Da gibt es allerlei Möglichkeiten der Irritation. Das liegt zum einen daran, dass manche Entscheidungen in Widerspruch zur eigenen Gefühlswelt stehen können oder dass die private Gefühlswelt sich in die institutionellen Entscheidungen hineinspiegelt. Letzters kann nie verhindert werden, da das Gefühlsleben des Menschen sich nicht abspalten lässt. Eine neutrale Haltung ist stets wichtig und das einzige Mittel, dem zu begegnen.
Innerhalb von Institutionen gibt es bestimmte Sympathiefelder, die wiederum nicht rein menschlich sind, die man eher als abstrakte Sympathien beschreiben kann, weil von der Institution aus gefühlt wird. Man empfindet also als institutioneller Vertreter in zweiter Instanz. Ein Beispiel aus der Wissenschaft dafür ist die Tendenz, etwa aus einem Aufsatz eine bestimmte Haltung, eine Perspektive herauszulesen. Weil man den Gegenstand zu kennen glaubt, glaubt kann man auch einschätzen zu können, wie die Perspektive auf diesen entsteht. Man rekonstruiert also die Perspektive auf den Gegenstand und liest diese als eine homogene Weltsicht des Autors, versteht sie als ein Charaktermerkmal und als dessen Temperament. Und danach dann bestimmt man, ob jemand in die Institution passt. Das sind hoch abstrakte Vorgänge, die stets mit größten Unsicherheiten verbunden sind. Aber viele halten diese Kristallisierung der Perspektive auf... als sicher gegeben. Und dadurch entstehen dann institutionelle Sympathien und Antipathien. Diese Manifestation der Sichtweise hat dann aber ganz konkrete Folgen, etwa ob jemand zu einer Tagung eingeladen wird oder nicht. Es entstehen Kreisläufe der Self-Fulfilling-Prophecy, Kränkungen des Privatmenschen, die wiederum sehr indirekt in dessen institutionelle Entscheidungen einfließen. So entstehen diffuse Animositäten, die oftmals um Schulen herum gruppiert sind, aber nicht nur. Es gibt wenige solcher Schulen, die eine Offenheit gegenüber allen anderen Perspektiven haben und die die indirekt entstehenden negativen Gefühle absorbieren können. Eine dieser Schulen ist die Kritische Theorie, die andere die Husserlsche Phänomenologie.

Längere Fassung von Yasujirō Ozus Komödie Tokkan kozō 『突貫小僧』(A Straightforward Boy) gefunden


Wie die Asahi Shinbun berichtet, ist diese Fassung 20 Minuten lang, also sechs Minuten länger als die frühere. Die Länge des Originals betrug ursprünglich 38 Minuten. [Link]

Butoh-Performance am 24. Mai am Hiyoshi Campus


BUTOH CHOREO LAB #1 Mitsuyo Uesugi 上杉満代 from Butoh Choreo Lab on Vimeo

Performance mit Mitsuyo UESUGI, Masaru SOGA und Masami TADA am 24. Mai. [Infos]

2023.05.14

»Das Lamento ist eine Grundform der Kunst.« Alexander Kluges Happy Lamento (2018) und Gespräch mit dem Regisseur im Athénée Français Tōkyō am 13. Mai 2023

Gestern Gespräch mit Alexander Kluge im Athénée Français.
(Foto: R. Nagae)
Becker: »Vielen Dank, Herr Kluge, für Ihre Großzügigkeit und für die Möglichkeit, dass wir die Distanz München-Tōkyō wieder gemeinsam überbrücken können. Das ist eine große Freude.«
Kluge: »Und ich begrüße das Publikum. Und mich bewegt sehr, dass es eine so weite Strecke ist, die wir auseinander sind, und trotzdem ist es so wie in einem Nachbarraum, als wären wir anwesend.«
Becker: »Ist das der Geist, Herr Kluge, der das überbrückt, die 10.000 Kilometer?«
Kluge: »Das ist die Elektronik.«

Interviews von Alexander Kluge mit berühmten Filmemachern [Link]
Glen Gray and the Casa Loma Orchestra Blue Moon (1934)

Chick Bullock and his Levee Loungers Blue Moon (1934)
Edith Piaf La Vie en Rose (1950)

2023.05.09

Lyra-8 Synthesizer

Neuer Sound

Moonlight Drive

2023.05.08

Echosound mit Drums

Echosound (Gitarre in Mainstage) und Drums (Garageband)

2023.05.07

Alexander Kluges Happy Lamento (2018)


Bild Bild
Am Samstag zeigen wir im Athénee Français in Tōkyō [Link]
Alexander Kluges Film Happy Lamento (2018) und sprechen danach mit dem Regisseur. Ich freue mich sehr darauf und bereite mich gerade darauf vor. Dabei fragte ich mich, was ein Lamento ist und stieß auf einige interessante Seiten der Musikwissenschaft, die meinen diffusen Begriff konturierten.
[Link Musikanalyse.net] [Link Openmusic Academy]

2023.05.04

Interessante Alben

Hier ein paar interessante Alben im Ad Noiseam-Label [Link]

Das verletztliche Internet

Das Internet ist sehr verletzlich, denn die Informationen werden über wenige Seekabel geleitet. Wie die FAZ mitteilt, warnte der NATO-Geheimdienstchef David Cattler: »›Russland kartiert aktiv die kritischen Infrastrukturen der Verbündeten sowohl an Land als auch auf dem Meeresgrund und wird dabei von den militärischen und zivilen Nachrichtendiensten Russlands unterstützt‹, so Cattler. Er warnte vor einem ›anhaltenden und erheblichen Risiko‹, dass Russland verbündete Systeme angreifen könnte.« [Link FAZ] Ein Blick auf Submarinecablemap.com zeigt, wo die Kabel verlaufen und wie fragil diese wichtige Infrastruktur ist. [Link]

2023.05.03

Heavy Metal Orgel Test

Diese Orgel von Garageband klingt super, wie bei Deep Purple!

Menschenbad

... in Shibuya.






2023.05.02

Was immer das auch sein mag, Tiefblind.

2023.05.01

Arpeggiatoren

Testdurchlauf mit den Arpeggiatoren von Logic Pro X.

Interessante Musik im Warp-Label

[Link]

Interessante Musik im A-Musik-Label


[Link]

2023.04.30

Nightmares on Wax


Interview mit George Evelyn [Link]

2023.04.27

Neue Songs

Neue Songs: Crying Sky und Floating!

2023.04.24

Neue Songs: Die Phantasie kann alles / Binaurealer Beat


Über den Umgang mit negativen Gefühlen

Im Sozialen entstehende negative Gefühle werden gewöhnlich personell attribuiert. Man glaubt, der Andere verletze einen absichtlich oder weil er/sie die eigene Perspektive nicht kennt oder respektiert. Dann entstehen Konflikte. Man hat mehrere Möglichkeiten, damit umzugehen:
- Man kann fragen, welches persönliche Motiv der Andere hat, ihn oder sie verstehen wollen.
- Man kann Arbeit leisten, entweder im Hintergrund oder sichtbar, um das auszugleichen.
- Man kann das Konfliktfeld etwa verbal oder künstlerisch thematisieren.
- Man kann auch prospektiv vorgehen, Möglichkeiten der Konflikte vorahnen und Ausgleichszonen schaffen, Toleranzbereiche.

2023.04.14

Ghosts again!

2023.04.11

Rezension Stephan Brössel, Susanne Kaul (Hg.): Echtzeit im Film: Konzepte – Wirkungen – Kontext

»[...] filmische Echtzeit bedient in ihrer Darstellung von Warten und Nichtstun die bewusste realweltliche Zeiterfahrung und fordert die Einübung von fernöstlicher Gelassenheit ein (Andreas Becker).« - Dieser Satz von Martin Janda schenkt mir Freude! [Link]

Depeche Mode

2023.04.09

Frohe Ostern!


Osterhase im Shibakoen.

2023.04.03

Ryūichi Sakamoto (坂本 龍一, * 17. Januar 1952 - † 28. März 2023)

2023.04.01

Dave Gahan und Depeche Mode

Tage im Tempel

“What will you do with the old garments?”
“We will make bed-covers out of them.”
“What will you do with the old bed-covers?”
“We will make pillow-cases.”
“What will you do with the old pillow-cases?”
“We will make floor-covers out of them.”
“What will you do with the old floor-covers?”
“We will use them for foot-towels.”
“What will you do with the old foot-towels?”
“We will use them for floor-mops.”
“What will you do with the old mops?”
“Your Highness, we will tear them into pieces, mix them with mud and use the mud to plaster the house- walls.”
Every article entrusted to us must be used with good care in some useful way, because it is not “ours” but is only entrusted to us temporarily.

Aus: The Teaching of Buddha, Tōkyō 1966, S. 221. [Link]


Seit ich vor 16 Jahren zum ersten Mal nach Japan kam, wollte ich immer mal in einem Tempel meditieren. Zazen mache ich schon seit 20 Jahren, aber diesen Wunsch erfüllte ich mir bislang nicht. Ich hatte auch etwas Sorge, die Abläufe nicht zu verstehen oder einhalten zu können. Nun ergab sich etwas freie Zeit und ich fragte im Hōsenji-Tempel (宝泉寺) in Kameoka (bei Kyōto) für vier Übernachtungen an. Der Tempel liegt sehr schön mit Blick auf das Arashiyama-Tal und es ist sehr ruhig. Natürlich hört man das Rauschen der Stadt tagsüber, aber ansonsten erklingt die Natur. Ich kann die vielen Eindrücke nicht alle beschreiben und sowieso drücken Worte die Erlebnisse und Wahrnehmungen nur unvollständig aus. Zu Beginn versammelten sich die Neuankömmlinge, es war eine kleine Gruppe, in einem schönen Raum mit Wandnische, mit Blick auf den kleinen Teich, Gärten und Natur sind im Rinzai-Zen sehr wichtig. Auf jedem Platz stand ein kleines Päckchen mit schwarzen Tüchern eingeschlagen. Es war das ein Jihatsu-Set (時鉢, halten/besitzen; Topf, Hirnschale).
Im Grunde symbolisierte dieses kleine Päckchen den gesamten Ablauf des Tempels. Legte man das Sutren-Heftchen beiseite und faltete das Tuch auf, so hielt man ein zweites viereckiges Tuch in der Hand, das auf der einen Seite schwarz, auf der anderen weiß war, dazu Stäbchen in einem Papierkuvert mit seinem Namen und ein dünnes Baumwolltuch. Im Inneren des Päckchens ruhten drei ineinander gesteckte Lackschalen. Diese sind das persönliche Essgeschirr. Morgens nutzt man nur zwei, abends drei, jeweils für einen Gang. Man muss die Schalen auf eine bestimmte Weise auf dem Tisch platzieren, damit es leise ist. Das wurde uns in einem Video auch gezeigt. Es scheint einfach, aber die Abläufe sind maschinenhaft, reflexartig und müssen sehr schnell, präzise und gleichzeitig ausgeführt werden. Dabei passieren am Anfang viele Fehler. Die Schalen glänzen und spiegeln die Umgebung, aber sich dem ästhetischen Spiel zu widmen, dazu hat man keine Zeit. Zum Essen geht ein kleines Team umher und reicht in Stille die Töpfe an, alle machen das einmal, die Arbeiten rotieren. Jeder kann sich von dem Essen selbst nehmen, nachdem man ein Zeichen dazu gab (gassho), in die jeweilige Schale. Danach wird etwas Reis geopfert. Man nimmt etwas aus seinem Schälchen, vollführt drei Kreise in Uhrzeigerrichtung über der linken Handfläche und hebt die weichgekochten Körner zur Stirn, legt den Reis dann auf das Opferschälchen. Am Ende wird alles sehr sauber leergegessen und mit etwas heißem Wasser gespült. Außerdem putzt man die Schälchen in einer genau festgelegten Weise mit einer halbierten Rettichscheibe. Am Anfang glitten mir die Schälchen dabei weg, später ging es besser. Nachdem man die Scheibe gegessen hat, spült man auch die Stäbchen mit dem Wasser ab, schüttet das Wasser in einen Topf und trocknet dann alles mit dem winzigen Tuch. Die Schälchen werden schnell in festgelegter Etikette wieder verpackt, man bringt sie wieder wie vorher in einen Wandschrank vor den Meditationsraum - bis zum nächsten Essen.

Sehr schwer fiel mir die Seiza-Sitzhaltung, aber so viele Menschen so still essen zu sehen, war interessant. Zwar gab es morgens Reisbrei, den ich nicht so mag, aber das Mittagessen und das Abendessen (Reis, Tofu, Nudeln, Spinat, Kürbis etc., 精進料理, shōjinryōri, Tempelküche) der Tempelköchin (典座, tenzo) war köstlich.
Ich genoss besonders beim morgendlichen Zazen den Gesang der japanischen Nachtigall (鶯, uguisu). Man nimmt in der Meditation die akustischen Eindrücke intensiver wahr. Und der Gesang dieser Vögel war für mich schöner als manche Sinfonie. Ich hörte auch zum ersten Mal den buddhistischen Obertongesang/die Sutren-Rezitation(bukkyō, 仏教), etwa das Hannya-Shingyō (般若心経). Durch die sich überlagernden Rhythmen, die Klangschalen und den Obertongesang ergeben sich Spektren von akustischen Energien, die durch den Raum fließen. Es ist dies wirklich eine hohe Kunst, die mich sehr beeindruckte und merkwürdigerweise an Techno-Musik erinnerte mit ihren Trance-Elementen. Ich merkte, dass der Zen-Buddhismus Wert auf die Produktion der Kunst legt, den Alltag verfeinert, aber dann dem Genießen kaum Raum schenkt. Das ist eine Art Umkehrung des westlichen Kunstbegriffs und der ästhetischen Haltung. Das Kunstwerk ist ephemer, ihm gebührt gar nicht der Wert, sondern dem alltäglichen Erzeugen von Ästhetik (wobei das ein schiefer Begriff ist für das, was geschieht). Es gibt da eine Fokusverschiebung, eine Abspaltung des Ichs von den Leidenschaften, vom Genießen, von der Welt. Die Geschwindigkeit der Abläufe, deren Ausführen erzeugt einen Automatismus, ein Nicht-Denken, aber auch eine Kollektivität. Der Buddhismus schwitzt die Kunst regelrecht aus. Die Gespräche mit den Menschen, viele Studierende, aber eine ganz gemischte Gruppe, Aussteiger, Tänzer, Arbeitslose und Sozialarbeiter, waren sehr nett und friedlich. Der Nachmittag frei, so konnte man dann doch genießen, wozu in den Abläufen kaum Zeit blieb. Samu (作務) mochte ich auch. Man nennt das in Deutschland ›Unkraut jäten‹. Wir sammelten Blätter auf und Blüten, zupften Gras, wo andere Gift streuen und mit dem Rasenmäher drüber gehen würden, weil es schneller geht. So aber nahm ich die Details wahr. Das wiederum war nichts Neues für mich. Ich mochte Pflanzen schon seit meiner Kindheit.
Homepage des Hōsenji-Tempels mit Informationen und Zeitplan (auf Japanisch) [Link]

Herzsutra, Text auf Japanisch (Hannya-shingyō) (Link Wikipedia)


Logan Codys Erklärung des Herz-Sutra (Hannya-shingyō) [Link]
Erklärung der Sutren [Link]
The Teaching of Buddha, Open Access-Publikation in vielen Sprachen [Link]
Interviews mit Priestern [Link]
Weitere freie Texte über den Zen-Buddhismus [Link]
Im Buddhismus gibt es sehr viele Beobachtungen zum Bewusstsein und dessen Schulung, etwa:
»The point of the teachings is to control your own mind. Keep your mind from greed, and you will keep your behavior right, your mind pure and your words faithful. By always thinking about the transiency of your life, you will be able to resist greed and anger, and will be able to avoid all evils.« (aus: The Teaching of Buddha, Tōkyō 1966, S. 11. [Link]).

2023.03.30

Über die Kunst des doppelten Menschseins

Stellvertreter seiner selbst zu sein, die höchste Kunst.

麻酔 (masui, Narkose)


Aufgenommen mit Garage Band, Blips Piano und Fixer Upper Organ, Atmengeräusch aufgenommen mit Zoom H6 Recorder.

2023.03.26

Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes

Das Gesetz mit dem euphemistischen Namen ›Wissenschaftszeitvertragsgesetz‹ soll novelliert werden. Die Bedingungen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler würden sich so weiter verschlechtern. Mehr dazu auf Profs-für-Hanna [Link].

2023.03.19

Impressionen aus Tōkyō

Kulturelle Prämissen

Die Frage der kulturellen Prämissen, woher sie kommen, wie sie zu beschreiben und zu vermitteln sind, wäre zu stellen. Wie viele Filme des Red Sea International Filmfestivals in Saudi Arabien (wo es erst seit ein paar Jahren ein Kino gibt!) kennen wir? [Link Red Sea Film Festival]

2023.03.17

Über Bewusstseinsformen

Die meisten Menschen leben in einem sehr fokussierten Korridor des Wachbewusstseins. Sie nehmen die Welt als gerichtete, intentionale wahr, die es durch Handeln zu verändern gilt. Man ist ein Akteur und das Sprechen dient dazu, den Alltag zu verändern, selten wird reflektiert. Aus dieser Sicht heraus erscheint der Schlaf wie eine Erholung und um die Träume kümmert man sich nicht, es sei denn, sie irritieren sehr. An einer Erweiterung des Bewusstseins ist man nicht interessiert, die Phantasie dient zur Problemlösung im Sinne des Erkundens von Möglichkeiten, die der Alltag bietet und der Einordnung desselben. Meditation, Tagträume kennt man nicht bzw. sucht sie zu vermeiden. Man begegnet diesen erweiterten Formen des Bewusstseins in westlichen Gesellschaften kaum, sie werden gering geschätzt. Die Spiritualität Japans allerdings spürt man allenthalben, die Durchgeistigung, die eben die Bedingung der Höflichkeit ist. Achtet man einmal auf diese beiden Schichten des erweiterten Bewusstseins und des Schlafs und Traums, so ergeben sich interessante Interdependenzen (siehe Schaubild). Das Wachbewusstsein driftet in diese beiden Sphären hinein. Aber wenn man diese schult, so wird es auch von ebenjenen affiziert. Es gibt ein Spektrum von Formen, in denen uns der Andere begegnet und wir uns.

2023.03.14

Über das Zeichnen

Beim Zeichnen verkörperlichen sich die Imaginationen, sie werden haptisch und entäußern sich. Die Phantasie wird gläsern. Je mehr man zeichnet, desto mehr entwickelt man einen haptischen Stil. Dieser ist nicht beliebig, die Phantasien müssen in das Optische übersetzt werden.

2023.03.13

Deutungswege

Heute hätte ich beinahe meine Jacke im Tempel vergessen. Man könnte zwei Deutungen daran anschließen:
1. Ich wollte schnell heraus und habe sie deshalb liegenlassen.
2. Ich wollte dort bleiben und ließ sie deshalb hängen. Sie markierte meine Trägheit und meinen unbewussten Wunsch, dort noch zu verweilen.
Beide Deutungen können sind plausibel, obwohl sie sich widersprechen. Von meiner Seite aus stimmt Deutung zwei.

2023.03.12

Über die ›Zettelmethode‹

Da viele Japaner trotz virtuoser Sprachkenntnisse schüchtern und bescheiden sind und sich nicht trauen, in gleicher Weise wie die Deutschen in Diskussionen aktiv zu sein, haben wir uns beim Tateshina Kulturseminar 2023 für die ›Zettelmethode‹ entschieden. Nach den dreißigminütigen Vorträgen machten wir eine zehnminütige Pause. In dieser Zeit verteilten wir Zettel, auf die die Zuhörerinnen und Zuhörer ihre Fragen schreiben konnten. Die Zettel wurden gesammelt, gingen nach und nach zum Vortragenden, und dieser entschied dann die Reihenfolge der Fragen. Wahlweise konnten dann die Zuhörer ihre Frage mündlich vortragen oder sie konnten sich auch dafür entscheiden, die Frage einfach verlesen zu lassen. Das führte zu einer Entschleunigung der sonst so dynamischen Diskussion. Natürlich war eine Beziehung der Fragen aufeinander nicht möglich, auch keine Spontaneität. Aber dafür nahmen die Vortragenden ein Zettelarchiv mit den Fragen nach Hause. Es war, glaube ich, ein guter Weg, um alle sprechen zu lassen. Vor allem für die Jungwissenschaftlerinnen und Jungwissenschaftler, die besonders von der Scham betroffen waren, weil sie nur kurze Zeit in Deutschland lebten, war die ›Zettelmethode‹ eine große Hilfe. Die Diskussion hatte einen anderen Verlauf, sie war gemäßigter, ruhiger, briefeähnlich, eine Mischung aus mündlicher und schriftlicher Kommunikation.

Gespräch in der Frühlingssonne

Eine Gruppe isst Obentos in der Frühlingssonne. Ein Deutscher und eine Japanerin essen Sushi. Sie beobachten sich.
Japanerin: »Du isst beim Sushi auch das, was Du nicht magst, zuerst.«
Deutscher: »Ja, zuerst das Tamago-Sushi. Das mag ich gar nicht. In der Mitte dann die Belohnung: Maguro, mein Lieblingssushi. Und dann der Ebi und die anderen Sachen. Die mag ich auch ganz gern.«

Über Ereignisformen

Eine von so vielen interessanten Beobachtungen von Joseph Vogl, hier beim Vortrag zu Kafkas Das Schloss. Er sagte, dass die Versicherungen Ereignisse in der Frequenz betrachten und nicht mehr in ihrer Verursachung. In Kafkas Romanen gebe es keine klaren institutionellen Grenzen mehr, sie beschrieben neue Art der Verwaltung. Kafka nannte das mal »lebende Anstalt«. Sie verschmelzen mit dem Leben.

Imaginationsniveaus und Sprünge aus der Imagination

Es gibt in Konferenzen verschiedene Imaginationsniveaus. Einige hören zu und denken mit, andere schweifen mit ihren Gedanken ab, sind müde, wieder andere denken aneinander, andere schauen Wörter nach, wieder andere bereiten sich auf ihren eigenen Vortrag vor. Obwohl alle physisch im Raum sitzen, entstehen Parallelräume der Imagination. Es lässt sich nur erahnen, wie diese verlaufen. Manchmal sind es kleine Gesten. Einige gehen ohne sich anzublicken aneinander vorbei. Eine Frau huscht im letzten Moment in den Aufzug und springt damit aus der Imagination in die Wirklichkeit.

2023.03.11

Vortrag von Prof. Dr. Joseph Vogl über Kafka

Im Rahmen seiner Japan-Vortragsreise spricht Prof. Dr. Joseph Vogl am morgigen 12. März 2023, ab 11.00 Uhr am Hiyoshi-Campus (Kanagawa) über das Thema Am Schloßberg (Kafka) (über Darstellungs- und Erzählprobleme in Franz Kafkas Das Schloß), Gebäude 4-A, Raum J411. Der Vortrag wird auch per Zoom online übertragen.

Tateshina Kulturseminar 2023

Das Tateshina-Kulturseminar Literatur, Ästhetik und Ökonomie - Poetiken des Wissens mit Prof. Joseph Vogl und Prof. Jin YANG geht heute zu Ende. Schade!

2023.03.07

Flug nach Tōkyō

Entfernung Frankfurt- Tōkyō: 11850 km (über China), Geschwindigkeit 1026 km/h, Eigengeschwindigkeit 885 km/h, Rückenwind 142 km/h. Zum Abschluss der Ansage bei ANA neuerdings eine Star-Wars-Melodie, R2D2 quäkt am Ende. Die Stewardessen servieren mit R2D2-Schürzen.
Jetlag bedeutet, Schlaf und Wachbewusstsein in eine neue Choreografie zu bringen. Sie tänzeln anders. Man kann das nicht erzwingen, muss geduldig mit sich sein, dann stellen sich die neuen Rhythmen ein und beide tanzen harmonisch. Zur Landung durch Zufall This Time Tomorrow von den Kinks gehört. Passt gut.

2023.03.03

Abendhimmel über Frankfurt am Main

3. März 2023, ca. 19.00 Uhr MEZ, zunehmender Mond, Venus und Jupiter.

Lukas Glajcs Optische Transzendenz (2022)

Bild
Ein Buch, das mich in den letzten Wochen inspiriert hat, ist Lukas Glajcs Essayband Optische Transzendenz. Der Verfasser verfolgt den interessanten Ansatz, die Photographie als transzendentes bzw. transzendierendes Medium zu denken. Einerseits reflektiert er sprachlich, andererseits aber ist er auch selber Photograph und flicht eigene Bilder in seine Überlegungen ein, führt seine Argumente also künstlerisch fort. Was ihn beschäftigt, ist die Frage der Bild-Kontemplation, die Weise, wie »eine Transformation des Unsichtbaren ins Sichtbare« (S. 11) stattfindet. Glajc beginnt mit der Malerei, diskutiert die Photographie und endet beim Turiner Grabtuch und den ›Nicht-von-Menschenhand-Gemachten‹, acheiropoietischen Bildern (S. 148f.). Er ist stilistisch auf den Spuren Roland Barthes und reist durch Italien und Europa, dabei wiederentdeckt er Bilder und Skulpturen, indem er sie erfahrungsmäßig erkundet, etwa Raffaels Verklärung Christi/Transfiguration (1520)
Transfiguration (Raffael)
die Verzückung der heiligen Theresa (1652) von Giovanni Lorenzo Bernini
Ecstasy of St. Teresa HDR.jpg
oder auch natürliche Bilder wie den Abendhimmel oder den Lichtkegel des Opaions im Pantheon. Seine Analyse von David Baillys Selbstporträt mit Vanitas-Stillleben (1651)
Selbstporträt mit Vanitasstillleben (David Bailly)
ist beeindruckend. Im Schlusskapitel Optische Transzendenz heißt es: »Durch den Eingriff des Fotografierens wird die Zeit in den Raum der Anschauung hineinversetzt und wird so zu dessen konstitutiven Element. Auf einer Fotografie definiert die Zeit den Raum - sie ›objektiviert‹ ihn, d.h. macht vor unseren Augen den Raum zu einem von unserem Sehen unabhängigen Objekt.« (S. 174)

Bilder aus Wikipedia, Links gesetzt. Gemeinfrei, [Link]

Besuch im Staedel-Museum

Georg Baselitz' Oberon (1964) hängt bei den Alten Meistern [Link Staedel].
Hans Thoma - Selbstbildnis vor Birkenwald (1899).jpg
Hans Thomas Selbstbildnis vor einem Birkenwald (1899) ist immer noch mysteriös. [Link Staedel]
MK 17354 Andreas Achenbach-Ein Seesturm an der norwegischen Küste.jpg
Die Arbeiten von Max Ernst zauberhaft, und Andreas Achenbachs Ein Seesturm an der norwegischen Küste (1837) [Link Staedel] einfach handwerklich unglaublich gut gemacht. Das Licht und die raue See, das Bild hat mich schon als Jugendlicher fasziniert.
Bartolomeo Veneto 001.jpg
Bartolomeo Venetos Idealbildnis einer jungen Dame als Flora (ca. 1520) [Link Staedel] Das Bild zeigt einer Legende nach Lucretia Borgia, Tochter von Papst Alexander VI.

Leider schloss die Sonderausstellung Der geschenkte Tag. Kastor & Polydeukes von Michael Müller an diesem Tag früher. [Link Staedel]

Bilder aus Wikipedia, Links gesetzt. Gemeinfrei, [Link]

2023.03.02

»Aufstand für Frieden«: Kundgebung in Berlin mit Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer

Sahra Wagenknechts kämpferische Rede für den Frieden am 25.2.2023

Annalena Baerbocks Konzept einer »Feministischen Außenpolitik« und die »Meldestelle Antifeminismus«


Feministische Außenpolitik gestalten. Leitlinien des Auswärtigen Amts [Link]
Rede von Außenministerin Annalena Baerbock zur Vorstellung der Leitlinien zur Feministischen Außenpolitik vom 1. März 2023 [pdf]
»Meldestelle Antifeminismus«, DLF-Gespräch mit Judith Rahner von der Amadeu Antonio Stiftung, gesendet am 27.2.2023, Moderation Tobias Armbrüster [Link]
»Gewaltschutz als ›Gender-Ideologie‹ durch die Hintertür«. Begründung der Amadeu Antonio Stiftung, warum ›Gender‹ keine Ideologie sei [Link]

2023.03.01

Reisesong

Wieder mal ein neuer Song, Reisesong. 10.000 Kilometer.
10.000 Kilometer, minus 61 Grad. Du steigst in die Maschine und schläfst. Wachst auf in einer anderen Stadt. 10.000 Kilometer. Minus 61 Grad.

2023.02.23

Mike Olbinskis Zeitrafferfilme von Wolken und Blitzen

Monsoon II (4K) from Mike Olbinski on Vimeo.
The Chase from Mike Olbinski on Vimeo.
Einige interessante Seiten über Blitze:
Weltweite Blitzhäufigkeit [Link] Siemens Karte Deutschlands mit Blitzhäufigkeit [Link]

Hundekotattacke von Marco Goecke

Ballett-Choreograph Marco Goecke beschmierte vor einigen Tagen die FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster mit Hundekot. Man fragt sich, wie so etwas passieren kann.
Marco Goecke im NDR-Interview [Link]
Kulturkritikerin Wiebke Hüster im NDR-Interview [Link]

2023.02.20

Umgehungsstraße Eckelshausen-Biedenkopf

Hier entsteht gerade die Umgehungsstraße Eckelshausen. Sie soll die Bürger vor Lärm und Emmissionen entlasten, wird sie aber von der Natur der Lahn und dem Wald abschneiden.
»Die geplante Ortsumgehung wird die aktuelle Ortsdurchfahrt des Biedenkopfer Stadtteiles Eckelshausen um 90 % vom Verkehr entlasten. Damit wird die Verkehrssicherheit in der Ortslage erheblich verbessert sowie die Lärm- und Schadstoffbelastung reduziert.« (UVP Verbund) [Link]. Zur Karte geht es [hier] und [hier]

2023.02.19

Luis Buñuels Él (Er 1953)

Der Film handelt von Francisco Galván de Montemayor (Arturo de Córdoba), der sich während einer Fußwaschung in einer Kirche in Gloria Vilalta (Delia Garcés) verliebt. Er trifft sie in der Kirche wieder und lädt sie über einen Trick auf seine riesiege Hacienda ein. Es gibt neben diesen zwei Handlungsebenen, der Kirche, der Liebe zur Frau, noch eine dritte, ein Rechtsstreit um ein Stück Land. Franciscos Eifersucht steigert sich immer mehr und wird zur Paranoidie, die in Gewalt umschlägt. Interessant ist an diesem Film das Motiv des Fuß-Fetischismus, das regelrecht einbricht und Franciscos Stimmung immer wieder umpolt, dazu seine paranoiden Vermutungen, die aber bis zu einem gewissen Grad bestätigt werden. Die Liebe zu Gloria lässt sich als eine Art von Besessenheit verstehen.
Ein sehr abgründiger Film mit einfachen filmischen Mitteln. Das Ende überrascht. Franciscos Wahn wird schließlich von der Kirche gebändigt. Buñuel schreibt, der Film sei einer seiner Lieblingsfilme: »Die Paranoiker sind wie die Dichter. Sie werden so geboren, und dementsprechend interpretieren sie die Realität immer im Sinn ihrer Obsession, auf die sie alles beziehen. Nehmen wir an, die Frau eines Paranoikers setzt sich ans Klavier und spielt ein bestimmtes Thema. Der Ehemann ist dann sofort überzeugt, daß es sich dabei um ein Zeichen handelt, das sie dem auf der Straße versteckten Liebhaber gibt. Él enthielt etliche dem Leben entlehnte Einzelheiten und auch ein gut Teil Erfindung. Wie etwa zu Beginn die Szene des mandatum, der Fußwaschung in der Kirche, bei der der Paranoiker sofort, wie ein Falke eine Lerche, sein Opfer erspäht. Ich frage mich, ob dieser Einfall eine reale Grundlage hatte.« (Luis Buñuel: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen, übers. von Frieda Grafe und Enno Patalas, Berlin 2004, S. 296)

2023.02.17

Berlinale Live-Stream und mein Wunschfilmfestival

Die Live-Streams der Pressekonferenzen der Berlinale können auf [Link] angesehen werden. Ich habe mich dieses Jahr nicht dafür entscheiden können, zur Berlinale zu fahren. Zum einen ist mir das Corona-Risiko noch etwas zu hoch. Aber ich sehe auch immer mehr eine durchschimmernde Typologie hinter der Auswahl der Filme. Das muss nichts Schlechtes sein, aber man ahnt schon, was einen erwartet. Sowieso ist die Frage, ob es eine gute Idee war, Selensky zur Eröffnung zuzuschalten [Link]. Es politisiert ein Festival nicht, sondern instrumentalisiert es, wenn man glaubt, auf eine solche Weise in das Geschehen eingreifen zu können. Immerhin schaffte es der russisch-französische Film Kletka ishet ptitsu (The Cage Is Looking for a Bird) [Link] in das Programm. Eine Historisierung des Krieges wäre ohnehin wichtiger als eine Live-Schalte.
Ich freue mich auf die neuen Filme von Christian Petzold und Angela Schanelec.

Ein Filmfestival, das ich mir wünsche, wäre rein historisch. Ähnlich wie in Pordenone. Man zeigt nur alte Filme, setzt dafür aber thematische Schwerpunkte. Dann haben die Kuratoren freie Hand. Sie sind Autoren und müssen nur Filme nennen, den Rest (Verleihbürokratie) erledigt eine Verwaltungsstruktur. Die Kuratoren stellen die Filme dann kurz vor und erörtern, warum sie die Auswahl trafen. Dann diskutiert man im Kino über die Werke. Alternativ könnte man auch Dopplungen, double features, zeigen. Einen historischen Film und einen aktuellen, den man in Bezug dazu setzen möchte.
Kommentare
Schöne Zeitlupen in Patric Chihas La Bête dans la jungle!, Pressekonferenz [Link]


Die Gespräche über Intimität und die Überwindung der Scham beim Drehen des Films Irgendwann werden wir uns alles erzählen Pressekonferenz (Marlene Burow, Felix Kramer) machen mich neugierig, aber warum kommt im Trailer all das nicht vor?
Gespräch mit Autorin Daniela Krien auf Zwischentöne [Link]

2023.02.16

Äußere und innere Disziplin

Die äußere Disziplin wird uns schon in der Schule beigebracht. Wir müssen diese nach dem Stundenplan besuchen. Und diese Taktung bildet das stillschweigende Erziehungsmoment der Lehranstalten. Da heißt es früh aufstehen, nach Vorgaben lernen, das Denken je nach Stundenplan umpolen, die gesamten Körperfunktionen auf dieses Zeitraster abstimmen. In der Regel führt diese Vorgabe dazu, dass wir im Privatleben einen Ausgleich suchen und auf eine Weise undiszipliniert leben. Dies führt dann ab dem Alter von ca. 30 Jahren dazu, dass wir uns eine zweite Genussrealität schaffen, leckere Speisen verzehren, guten Wein trinken, in Urlaub fahren. Es ist dies eine anarchische Form der Reaktion. Die äußere Disziplin der Schule schwappt in unser Leben über, durch Gewöhnung. Aber wir wollen uns doch von ihr freimachen. Dazu gibt es die innere Disziplin. Das ist eine, der diese Mechanismen transparent sind. Sie versucht also nicht durch selbst aufgelegten Zwang (Drill) auf die äußere Disziplin zu reagieren, ihr zu genügen, sondern durch eine innere Reaktion, durch eine ›Platonisierung der Seele‹ oder eine meditative Ruhe. Dazu braucht es eine Enthaltsamkeit, eine Askese, ein Ausschlagen des Ausgleichsangebots, etwa beim Gang in die Kneipe, das Restaurant. Die soziale Reaktion darauf fällt unterschiedlich aus. Manchmal wirkt es, als ob die Anderen uns dann als Genussverächter betrachten. Aber insgeheim genießt man Achtung durch diesen Verzicht, der in der inneren Disziplin liegt.

Ulrich Köhler In my Room (2018) - Filmvorführung und Gespräch mit dem Regisseur
22. April 2023, ab 17.00 Uhr (Tōkyō-Zeit) Filmvorführung im Athénée Français Tōkyō, ab 19.15 Uhr Zoom-Gespräch über den Film

Bild
Wir zeigen den Film In my Room (2018) mit japanischen Untertiteln und sprechen anschließend per Zoom live mit dem Regisseur Ulrich Köhler. Die Veranstaltung findet ausschließlich im Athénée Français Tōkyō statt.
Moderation Andreas Becker, Übersetzung Tetsuya Shibutani
In my Room (2018), Kurzinhalt (Presseinfo)
Armin wird langsam zu alt für das Nachtleben und die Frauen, die er mag. Er ist nicht glücklich mit seinem Leben, kann sich aber kein anderes vorstellen. Als er eines Morgens auf- wacht, ist es totenstill: Die Welt sieht aus wie immer, aber die Menschheit ist verschwunden. – Ein Film über das beängstigende Geschenk absoluter Freiheit.
Die Protagonisten dieses Films erleben eine Katastrophe und bekommen die Chance, ihr Leben neu zu gestalten. Aber sie schleppen ihre Vergangenheit mit sich und können nicht bei Null anfangen. Kirsis Glaube an die Liebe ist erschüttert und Armin hat noch nie mit einer Frau zusammengelebt.
IN MY ROOM ist eine „realistische“ Geschichte mit einer unrealistischen Prämisse – kein „Endzeitdrama“, sondern ein Film, der mit Humor von der Liebe der letzten Menschen erzählt. Das Verschwinden der Menschheit ist der Rahmen für ein Experiment, das den Widerspruch zwischen Freiheitsdrang und dem Wunsch nach Geborgenheit untersucht.

Biographie Ulrich Köhler (Presseinfo)
Ulrich Köhler wurde 1969 in Marburg geboren. Er studierte von 1989 bis 1991 Kunst in Quimper/Frankreich, anschließend in Hamburg Philosophie und später Visuelle Kommunikation an der Hochschule für Bildende Künste (Diplom 1998). Dort entstanden auch seine Kurzfilme. Seine Spielfilme „Bungalow“ (2002) und „Montag kommen die Fenster“ (2006) liefen auf zahlreichen Festivals und erhielten Preise im In- und Ausland. Sein letzter Film „Schlafkrankheit“ feierte 2011 im Wettbewerb der Berlinale seine Premiere und wurde dort mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet.
FILMOGRAPHIE
2018 IN MY ROOM, Buch und Regie
2011 SCHLAFKRANKHEIT, Buch und Regie
2006 MONTAG KOMMEN DIE FENSTER , Buch und Regie 2002 BUNGALOW, Buch zusammen mit Henrike Goetz, Regie

Regieanmerkungen (Presseinfo)
Armin lebt allein, er will sich nicht binden. Ob er seine Freiheit zu sehr liebt oder vor Verantwortung flieht – er hat sich so lange alle Optionen offen gehalten, bis er die meisten verspielt hatte. Er lebt vor sich hin, nimmt, was er kriegt und meidet den Blick in die Zukunft. Erst der Verlust eines geliebten Menschen zwingt ihn, sich Fragen zu stellen. Als er dann in einer leeren Welt aufwacht, muss er sich entscheiden. Er wählt das Leben. Und als er die letzte Frau trifft, glaubt er zum ersten Mal an die Liebe. Aber auch im Paradies stellt sich die Frage, ob die Möglichkeit des Glücks der Wirklichkeit standhält.
Wie die Hauptfigur Armin bin ich – und viele andere meiner Generation – in einem liberalen Elternhaus ohne existentielle Nöte aufgewachsen. Nach der Schule standen viele Wege offen. Weder die Berufswahl noch die Gründung einer Familie waren Automatismen, der Raum des Möglichen schien unbegrenzt. Das Gefühl jederzeit neu anfangen zu können, gehört genauso zu meiner Identität, wie die Weigerung sich materialistischer Logik und Sicherheitsdenken zu unterwerfen.
Gefördert vom DAAD Tōkyō
Homepage In my Room [Link]
Weitere Infos auf Im Apparat [Link]

2023.02.15

Videobeweis im gestrigen Spiel Bayern gegen Paris in der Champions League

Der Videobeweis ist ein Teil einer technischen Auffassung des Fußballspiels, er verkehrt dessen Ereignischarakter. Insofern ist es ganz konsequent, wenn Videospielhersteller die Übertragung sponsern und Statistiken dazu dienen sollen, das Spiel zu beschreiben [Link Uefa]. Man erlebte das beim gestrigen Spiel Bayern gegen Paris in der Champions League: »Acht Minuten vor Schluss schickte Fabián Ruiz über links Nuno Mendes. Von der Grundlinie gab der Portugiese ins Zentrum. Mbappé schob ein. 1:1. Es meldeten sich Tomasz Kwiatkowski und Stuart Attwell aus dem Videokeller. Nuno Mendes stand knapp abseits. Einatmen. Ausatmen, aus Münchener Sicht.« [Link Neunzigplus] Das klingt wie gegeben. Aber es war doch nur die Fußspitze! Ist man sich so sicher, dass alle Videoeinstellungen das hergeben? In der Übertragung sah man dann nur eine Simulation, die einem Computerspiel ähnelte und die als Beweis dienen sollte. Ich meine, dass der Schiedsrichter die einzige Instanz sein sollte, ohne Videobeweis. Denn dessen Objektivität ist eine Illusion. Der Videobeweis erzeugt nur Bilder, mehr nicht. Jedes Fußballspiel ist ein Ereignis, das sich auf alle Beteiligten überträgt und sich von dessen Übertragung genauso unterscheidet wie von der Aufzeichnung. Und diese ereignishafte Rückwirkung auf die Beteiligten gehört zur Dynamik dazu. Dann hätte es 1:1 gestanden, nicht 1:0 für Bayern.

Pharrell Williams bei Louis Vuitton

Pharrell Williams ist neuer Men's Creative Director bei Louis Vuitton [Link]. Es gehört eine Balance dazu. Die Luxusmarke muss erkannt werden und sich gleichzeitig wandeln. Sie muss neue Trends setzen und dennoch traditionell wirken. Neues wagen und dennoch einen Absatz finden. Natürlich, ein paar Jahre kann man sich Misserfolge leisten. Aber solche Marken sind schnell beschädigt. Pharrell Williams hat ein Gespür für Sounds und es ist seitens Louis Vuitton offenbar der Versuch, das Proletarische des Rap in den Luxus zurück zu verwandeln. Der Underground, der das Luxusprodukt immer schon als reines Ziel ansah und sich dann mit den Devotionalien der Reichen schmückte. Und nun kaufen sie ihre eigenen Spiegelungen in Form von Williams Kreationen. Zeitversetzt wäre das Kitsch gewesen, aber hier, an diesem Ort zu dieser Zeit eine Goldgrube.

Interessante Bücher im Open Access des Büchner-Verlags

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2023.02.13

Prestigekünstler und Kreativkünstler

Wir sahen schon, dass es Künstler gibt, die sich auf das Prestige verstehen, d.h. begreifen, dass man in bestimmte Formate kommen muss, um von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Es kann sein, dass diese Prestigekünstler gar nicht kreativ sind, sie überhaupt keine besonderen Ideen haben, aber der Erfolg ihnen zuspricht. Andererseits kann es Kreativkünstler geben, die unglaublich schöne Ideen haben, handwerklich talentierte Menschen, die sich aber nicht darauf verstehen, mit den Institutionen zu kommunizieren, die sich nicht vermarkten können. Natürlich wird es in Reinform keinen dieser Typen geben, aber eine Orientierung bietet dieses Modell. Was passiert, wenn der Prestigekünstler auf den Kreativkünstler trifft? Er kann ihn ignorieren. Holt er ihn ›ins Boot‹, so läuft er Gefahr, dass sein Erfolg sich als Bluff herausstellt. Das wird er also nicht tun. Er wird ihm nichts abgeben vom Erfolg, zumindest nicht offiziell. Das wäre gleichbedeutend mit einer Kritik an sich selbst. In wenigen Fällen gibt es den Kreativkünstler, der ein Prestigekünstler ist bzw. diese Rolle ausfüllt. Das sind die Großen. Sie spüren die Macht der Kunst und gehen mit ihr sorgsam um.

Repräsentanten

Repräsentanten, Funktionsträger machen sich die Behäbigkeit von Institionen zu eigen, indem sie diese in ein Charaktermerkmal verwandeln. Sie sprechen offiziell, sie agieren mit Bedacht, ihr Habitus ändert sich. Auch im Privatleben können sie nicht anders, sie suchen ihre Mitmenschen nach Daten ab, kartographieren das Leben und norden es. Sie fragen unmittelbar, welche Stellung man habe oder erschließen diese indirekt. Sie halten die Differenz zum Amt, zur Institution nicht aus. Das macht sie zu begehrten und erfolgreichen Menschen, die in den Hierarchien nach oben springen. Sie können aber dafür auch die Differenz der Institution zum Leben, die notwendig besteht, da diese starr ist, nicht mehr begreifen. Wenn die Institution auf Grund läuft, waren sie der Kapitän. Es gab keinen Plan B, nicht mal in Gedanken. Sie machten also eine Verwaltungsstruktur zu ihrer Persönlichkeit, sie orientierten sich m.a.W. bürokratisch. Viele glaubten daran, manche sahen ihr Leben nur als Spiel. Das merkt man frühzeitig am Zynismus.

2023.02.11

Lichtenberg

Wieder eine schöne Beobachtung von Georg Christoph Lichtenberg in den Sudelbüchern: »Wenn er seinen Verstand gebrauchen sollte, so war es ihm als wenn jemand, der beständig seine rechte Hand gebraucht hat, etwas mit der linken tun soll.« (B1) [Link]

Vereinsmeierei

Mir schien als Jugendlicher im Tischtennisverein dessen Organisation kontraproduktiv. Der Verein hatte nicht zum Ziel, den Spaß am Spiel zu vergrößern oder die Spielzeit mit den anderen zu maximieren, es ging vor allem um Auslese. Auslese der Besten, die dann das Spiel gewinnen sollten, das war selbst das Ziel des Trainings. Dadurch verkehrte sich aber das Spielerische und wurde zur Arbeit. Es entstanden merkwürdige Wartezeiten. Man hoffte, nicht nur auf der Ersatzbank warten zu müssen. Vollends absurd wurde es bei Tunieren, die einen Tag oder mehrere dauerten und bei denen man in kürzester Zeit zeigen sollte, was in einem steckt, das hieß aber wiederum: kein schönes Spiel, kein Spaß, sondern alleine punkten. Ideal war der Aufschlag mit Drill. Prallte der Ball von des Gegners Schläger zur Seite, war man erfolgreich. Die Bedingung des Spiels waren oft die Eltern, die irgendeine Hoffnung in den Gewinn legten. Sie richteten die Kinder regelrecht ab und holten etwas nach, was ihnen selbst in ihrer Kindheit fehlte. Ein eigentümlicher, springender Impuls über die Zeiten, der die Emotionen verkehrte und alles einer Gewinnordnung unterwarf. Ähnlich wie die Kugel im Flipperspiel.

2023.02.10

Kunst, Aufmerksamkeit und Interesse

Wie fügt sich das Interesse des Publikums mit dem des Künstlers/der Künstlerin? Warum interessiere ich mich für ein Kunstwerk? Wie weckt ein Kunstwerk mein Interesse? Wie wir sahen, generieren die Kunst-Institutionen zunächst nur Aufmerksamkeiten. Das Interesse ist etwas, das sich sehr langfristig bildet und dazu von Erfahrungen abhängt. Es ist aber ein guter Weg, die Aufmerksamkeiten stetig zu nutzen, so dass das Interesse sich anlagern kann. Da gibt es das Phänomen der Interferenz des Interesses zwischen Künstler und Publikum, sie entsprechen einandner.
Gäbe es die Institutionen nicht, erführen die Künstler keine Anerkennung und keine Aufmerksamkeit. Sie würden vor sich hin malen, photographieren, filmen etc. Kaum einer würde das zur Kenntnis nehmen. Sie würden vielleicht als Sonderlinge gelten. Die institutionelle Anerkennung legitimiert ihre Arbeit also und bietet ihnen ein Refugium. Aber wenn das Interesse sich nicht assoziiert, wird ihre Kunst vergessen. Wie kommt es zu dieser Interessens-Interferenz zwischen Künstler und Publikum? Es ist die Erfahrung, aber auch eine bestimmte Haltung, die diese für sich selbst einordnet. In autoritären Regimen ist das durch die Ideologie gebahnt, aber in Demokratien glücklicherweise vielstrahlig und reflexiv. Dennoch gibt es eine Einstimmigkeit. Die Interessenssphären sind intellegibel, sie sind auch von Gefühlen und Haltungen geprägt, ausgesprochen diversifiziert. Irgendwann achtet das Publikum auf den Künstler in Persona, lagert sich ihm/ihr an, hört ihm/ihr zu. Es entsteht ein Phantom-Ich, ein stiller Star, eine brüchige Autorität, der man vertraut.

2023.02.09

Kunst und Interesse

Warum produzieren Menschen Kunst? Es ist eine kreative Arbeit, die die Phantasien materialisiert und dem Künstler/der Künstlerin neu darstellt. Insofern hat Kunst immer einen Eigenwert in der Beschäftigung mit ihr, es ist eine Spiegelung des Inneren nach außen. Aber dazu kommt ein Interesse. Man verfolgt eine Idee, möchte ein Projekt realisieren. Die meisten Künstler stellen ihre Arbeiten öffentlich vor. Das ist zum einen die Bedingung dafür, dass sie eine Förderung erhalten. Aber es liegt darin auch ein Prestigegewinn. Den meisten Künstlern geht es also darum, in bestimmten Foren, Museen, Formaten präsent zu sein. Sie möchten einen Platz im Filmverleih, Museum, in einer Sammlung erringen und so ihre Position sichern. Weil so institutionell ein Publikum erreicht wird, geht man auch davon aus, dass der Kultwert des Werks sich erhöht. Aber man täuscht sich leicht. Diese Foren erzeugen nur Aufmerksamkeiten. Es gibt ganz wenige Künstler, Franz Kafka war einer, Helge Schneider ist einer, die sich um diese Institutionen nicht scheren, die den Prestigegewinn und den institutionellen Zugang als Schein begreifen. Sie verwechseln Aufmerksamkeit nicht mit Interesse und vertrauen auf die Menschen, die sich assoziieren, jenseits der Wahrscheinlichkeit, der Berühmtheit, der Institution.

2023.02.08

Frühlingsboten

Die Sonne scheint, die Krokusse sprießen und die Vögel singen bereits im Dornbusch-Viertel. Der Frühling kommt, wenn es auch noch winterlich kalt ist in Frankfurt am Main.

Russ Ballards Voices

Der Song ist aus dem Jahr 1984. Am Bass Mo Foster, Drums Simon Philips, Keyboards Greg Sanders, Produktion und Gesang Russ Ballard. Der Song ist ungewöhnlich, weil er langsam beginnt. Die meisten Pop-Stücke möchten den Hörer gleich ansprechen, aber dieser Song ist anders. Er hebt mit einem Pfeifton an, der zwischen dem linken und dem rechten Kanal pendelt. Pezzo spielte den Song im Connection in Laasphe zur Eröffnung des Abends, und ich meine, er ist auch für Diskotheken und große Räume komponiert und produziert. Erst hier, räumlich, entfaltet er seine Atmosphäre. Dass da wenig passiert, lässt uns auf den Raum achten und verdelt diesen. Die Drums haben eine mechanische Kraft, auch die minimalistische Gitarre zu Beginn ist schön.

Chiffren der japanischen Kultur

Wie sehr die japanische Kultur sich selbst chiffriert, habe ich eben erfahren, als ich einen Ort bei Chichibu suchte. Ich wanderte dort im Frühjahr 2022 und photographierte einen Wasserfall, dessen Ort ich auch auf der Karte [Link] fand, mitsamt der Beschriftung in Kanji-Zeichen: 清浄の滝. Das letzte Zeichen heißt Wasserfall, gesprochen: taki. Aber die Leseweise der zwei ersten Zeichen war unklar. Was sie bedeuten, zeigte mir das Wörterbuch an: Reinheit, Sauberkeit, Unschuld, Buddh. Reinheit von Leidenschaften und Sünden. Aber es gibt zwei Weisen der Aussprache dieser ersten beiden Zeichen: seijō und shōjō. Im Internet fand ich das Zeichen und viele japanische Texte, aber keine Leseweise. Schließlich half mir ein Youtube-Video weiter, bei dem ich davon ausgehe, dass es die richtige Aussprache benutzt. Das sind solche klein erscheinenden Probleme. Aber wenn man wanderte und fragte: »Wo ist denn der shōjō no taki?«, dann würde man nur in fragende Gesichter schauen. Vielleicht würde jemand enträtseln, dass man die falsche Leseweise benutzte. Aber wenn seijō die übliche wäre, dann würden die anderen wohl antworten, dass sie es nicht wüssten. So chiffriert sich die japanische Kultur permanent, auch innerhalb der Kulturwelt. Die Japaner stehen vor dem Rätsel ihrer eigenen Kultur, wobei ›eigenen‹ mit beständiger Unsicherheit verknüpft ist und der Voraussetzung, dass man die örtliche Leseweise kennt. Das ist ein Grund (nicht der wesentliche) für die Höflichkeit, Geduld und Toleranz der Japaner gegenüber dem Fremden.

2023.02.04

Astrud Gilbertos zauberhafte Zeilen

Astrud Evangelina Gilberto (* 30. März 1940 in Salvador da Bahia, Brasilien) ist die Tochter des deutschen Einwanderers Dr. Fritz Weinert aus dessen Ehe mit der Brasilianerin Evangelina Weinert, geb. Lobão. Ihr Vater war Sprachlehrer und unterrichtete Deutsch und Englisch. [aus: Wikipedia] Gilbertos Bossa Nova/Easy Listening-Songs erkunden die Gefühle, vor allem das des Verliebtseins und der Melancholie der Trennung. Ich mag ihren Gesang, weil er ganz ungewohnt betont, eigentlich eher spricht als singt, manchmal verspielt wie bei einem Kinderlied ist. Ihre Stimme hat eine synästhetische Tiefe und Farbigkeit. Hier einige ihrer schönsten Lyrics:
The Face I Love
Then think of things
Like far off isles
Two blue-green eyes
And sunlit smiles
And in your hand
The wishing star
The one you thought too far above
Every lovely view introduces you
To the face that I love

Das ist schon in den Bildern hüpfend, eine Aneinanderreihung vor dem Reim, eine Vorzeichnung eines Liebeslieds.

The Shadow of Your Smile
The shadow of your smile when you are gone
Will color all my dreams and light the dawn
Look into my eyes, my love and see
All the lovely things you are to me
Diese Details des Lächelns vergrößern sich in der Leidenschaft, dann der Blick und diese Hommage an den abwesenden Anderen.

A Certain Sadness
Look out the window when that rain storm
I let the wind blow up a brain storm
And now I'm wondering
Whether weather like this gets you too
Diese einfache Idee, der Reim rain-brain, der eine assoziative Weite hat, dazu dieser melancholische Gesang.

Agua de beber
Mas o amor sabe um segredo o medo pode matar o seu coração
[Aber die Liebe weiß, dass eine geheime Angst dein Herz töten kann]
Água de beber, água de beber camará, água de beber, água de beber camará
[Trinkwasser, Trinkwasser, Trinkwasser, Trinkwasser, trinken]

Einerseits mystisch, dann wieder ganz banal, wobei ich nicht sicher bin, ob der KI-Translator alles richtig übersetzt hat. Aber der Singsang ist hypnotisch, diese schönen Wiederholungen, die auf eine Weise wie die einer Besessenen sind. Sie muss es aufsagen. Ähnlich ist es bei
Dindi
Wind that speaks to the leaves
Telling stories that no one believes
Stories of love, belong to you and me
Das ist so schön banal, so winkend, dazu dieses Hüpfen der Wiederholung im Refrain.

Cocorvado
Floating on the silence that surronds us

Schweben auf der Stille, die uns umgibt, schöner kann ein Gedicht doch nicht sein.

Far Away
But now you're far away
So far away you're like a distant star away
And even though your hands could touch me if they tried
When love has died, what more is there to say?
Die Gefühle sind zuerst da, aber die Erinnerung klingt nach wie bei einem Stern.

Fly me to the Moon
Fly me to the moon and let me play among the stars
Let me see what spring is like on Jupiter and Mars
In other words
Hold my hand
In other words darling, kiss me

Wieder die Planeten, das kosmische Gefühl des Verliebtseins, ohne Dimension.

Look to the rainbow
Look, look
Look to the rainbow
Follow the fellow
Who follows a dream

Auch hier wieder dieser schöne Übersprung von follow zu fellow. Spielerisch. Das ist immer wieder gut, weil es dieser Anstrengung der Massenmedien, man müsse etwas Besonderes dichten und singen eine Spontaneität entgegenhält. Die Leichtigkeit und Ehrlichkeit der Gefühle ist viel überzeugender als manch ausgeknobelte Zeile.

Manhã de carneval
Depois deste dia feliz
Não sei se outro dia haverá
É nossa manhã, tão bela afinal
Manhã de Carnaval.

»Ich weiß nicht, ob es noch einen Tag geben wird« (»Não sei se outro dia haverá«).

Once I Loved
Because love is the saddest thing
When it goes away
Metaphysik der Liebe!

2023.02.03

Über die Feststellung von Temperament und Ansicht

Es ist üblich, die Meinung mit einem Temperament zu koppeln. Die Frage etwa, was man davon halte, wie man das sehe, arritiert den diskursiven Raum, sie möchte eine Perspektive haben, eine Antwort, die mit der Gefühlswelt (dem Temperament) ineins gesetzt werden kann. Erklärt man sich dann zu einer Sichtweise bereit, so ist man einordenbar. Dann ist also die Weltsicht der Gefühlswelt zugeordnet. Erklärt man sich nicht bereit dazu, weil der Alltag vielstrahlig ist und mehrdeutig, so gilt man vielen Menschen als unseriös. Sie möchten gerne die Vorhersagequalität, dass man so reagiert, wenn sie das und das sagen. Man soll wie ein Roboter fungieren. Viele Menschen erwarten diese Einstrahligkeit im Leben.

Konflikte

Konflikte im Nachhinein zu versöhnen, ist schwierig. Sie im Vorhinein zu verhindern, der bessere Weg. Aber es erfordert eine vage Kenntnis des Anderen, zudem eine Mehrarbeit für den Anderen, so dass dieser keine Ansatzpunkte für einen Konflikt findet. Eine gute Atmosphäre herzustellen, ist immer ein guter Weg, Kompromisse auszuloten, selbst wenn das nicht notwendig erscheint.

2023.02.02

Bob Dylans Theme Time Radio

Wunderbar ist Bob Dylans Radio-Show Theme Time Radio [Link], alles eine Entdeckungsreise, sowieso Folge 33. Countdown[Link].

Das Separatrix-Projekt

Alexander Kluge hat zusammen mit Katharina Grosse ein sehr schönes farbiges Bändchen gestaltet, das Separatrix-Projekt, das Collegenprinzip auf das Buch übertragend, mit vielen OCR-Codes zu Kluges Filmen, 708 Seiten. Ein inspirierendes Buch, das ich nicht aus der Hand geben möchte. [Link Bücher.de]

2023.01.31

Adorno über Ideologie

In seinem Buch Negative Dialektik schreibt Theodor W. Adorno: »Identität ist die Urform von Ideologie.« (Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1975, S. 151)

2023.01.30

Jimi Hendrix' Produzent Eddie Kramer über die Produktion von All Along the Watchtower

Rosa von Praunheims Härte (2015)

Der Film inszeniert Andreas Marquardts autobiographischen Roman. Eine Schicht wirkt wie ein Dokumentarfilm, die zweite versetzt uns in dessen Kindheit, in eine groteske Phantasiewelt der Lust, die dann immer wieder kommentiert wird. Praunheim ist einer der wenigen deutschen Filmemacher, die Sexualität offen thematisieren. Dass der Film auf Filmfriend zu sehen ist, spricht eindeutig für diese Plattform der Stadtbüchereien. [Link]

2023.01.29

Über die Paradoxien der ›erneuerbaren Energien‹

Eine einfache Rechnung zeigt die Paradoxien der Energiewende, die ganz im Zeichen einer kapitalistischen Mehrwerterzeugung steht und nicht im Sinne des Umweltschutzes, schon gar nicht des Sparens von CO2:
Das Windrad ENERCON E-115 [Link] beispielsweise hat einen Rotor von 115 m, hier nur das Gewicht des Stahls:
100 t Bewehrungsstahl
141 t Rotor
63 t Nabe
91 t Generator
----------------------------
395 t an Stahl, ohne Fundament
Wie die FAZ schreibt, werden »Je Tonne Rohstahl werden rund 1,7 Tonnen an CO2-Emissionen erzeugt.« [Link]. Da Rotorblätter sicherlich nicht nur aus Stahl, sondern auch aus Verbundmaterial sind, rechne ich mal mit einem Stahlgewicht pro Windrad von 350 t, daher wird für die Produktion eines Windrads 595 t CO2 ausgestoßen, nur für den Stahl, ungeachtet des Aufstellens, des Fundaments, der Kupfererzeugung etc. An Land (ohne Offshore!) fanden sich nach einer Statistik 28.230 Anlagen im Jahr 2021 in Deutschland [Link]. Es wurden also insgesamt 16.796.850 t CO2 für diese Windräder in die Atmosphäre gegeben. Man belügt sich und die Menschen, wenn man diese Fakten unterschlägt, wie es meistens geschieht. Natürlich wird dann Energie ohne CO2-Ausstoß produziert (was aber auch nicht ganz stimmt, denn die Anlagen müssen gewartet werden, auch entsorgt müssen sie werden). Was wäre da eine Alternative? Ganz einfach: Sparen. Das geht von heute auf morgen. Den Menschen sagen, dass sie weniger Technik benutzen sollen, die Urlaube weniger, dafür aber länger sein sollten. Im Winter ist es kalt. Dann muss man sich auch in der Wohnung warm anziehen und spart so Energie und vermeidet CO2. Es ist also eine Mentalitätsänderung notwendig. Die wirkt sofort und stößt kein CO2 aus. Aber das hieße verlangsamen, weniger konsumieren. Dadurch würde der Mehrwert gesenkt. Das geht im Kapitalismus nicht.

2023.01.28

Verästelungen des Wissens

Die Suche im Internet fördert zunächst nur Standardtreffer. Wer wenig gelesene und dennoch interessante Bücher finden will, muss sich bestimmter Verfahren bedienen. Ich benutze zwei Verfahren. Zum einen lese ich die Texte intensiv und suche dann nach ungewohnten Stichwörtern und Kombinationen, folge bestimmten Pfaden und Hinweisen aus Fußnoten. Das zweite Verfahren ist ganz praktisch. Ich gehe in die Bibliothek und stöbere. Da habe ich unglaubliche Schätze gefunden. Diese topische Anordung ist durch nichts zu ersetzen. Das Gehen im Wissensraum ist auch ein Gehen im Geiste der Jahrhunderte.

2023.01.27

Über Orte und Atmosphären

Flug von Tōkyō/Haneda nach Frankfurt am Main. Man fliegt wegen des Krieges Russlands gegen die Ukraine andersherum, über die Arktis, bei Anchorage vorbei. Flughöhe meistens um 12 km, 885 km/h schnell, Außentemperatur -51 Grad, über der Arktis -61 Grad, als wir sie passiert haben, ist es sogar noch etwas kälter. Das hängt vielleicht mit Luftströmungen zusammen. In Frankfurt angekommen, ist alle anders. Es sind nicht nur die Menschen, die Architektur, die Geräusche. Es ist viel mehr der Ort. Ich fühle mich anders, weiß nicht warum. Etwas umfängt mich. Die beiden Orte haben eine andere Atmosphäre, der Flug versetzte mich in Atmosphären. Ich kann aber nur schwer thematisieren, was das ist.

Plan 75 (2022) im Flieger


Selten habe ich einen langweiligeren Film gesehen als Plan 75 (2022) von Chie Hayakawa. Der Film spielt in der japanischen Gesellschaft der nahen Zukunft, in der die Seniorinnen und Senioren zur Sterbehilfe erzogen werden sollen. Sie sollen mit Hilfe von Medikamenten sterben, weil die Gesellschaft zu schnell altert. Der Film hat eine depressive Schlagseite. Chieko Baisho spielt Mishi Kakutani, die das nicht will, die aber ihr Leben dahinfristet. Sie lacht nicht und lächelt nicht. Nur ein einziges Mal, beim Kegeln. Ansonsten herrscht in diesem Film Tristesse, Ausdruckslosigkeit. Man erfährt schlichtweg nicht, warum sie sich gegen das Sterben entscheidet. Es wäre viel interessanter gewesen und sowieso viel mutiger, wenn Hayakawa gezeigt hätte, wie die Älteren die Pillen schlucken und den Tod suchen. Das hätte eben die Frage nach dem Sinn des Lebens im Alter gestellt. Shunji Iwai hat diese Idee in Vampire (2011) aufgeworfen, also die Suche nach einem angeleiteten Selbstmord. Dieser Film hätte es freilich nicht auf die Screens der Flugzeuge geschafft. Aber auch ästhetisch bietet Plan 75 nicht viel. Es ist ein Film mit wenig Mut zum Risiko. Er will mit seiner Haltung und seiner Ästhetik gefallen. Das ist aber eine allgemeine Tendenz im Gegenwartskino. Sah neulich ein paar Filme von Chise Motoba 浜野佐知 [Link], eine der wenigen Frauen des Pink-Films. Die hatten wenigstens ein paar Ecken und Kanten, wenn es etwa um die Sexualität von älteren Menschen und Rollstuhlfahrern geht. Dieses Thema freilich wird in Plan 75 vollkommen ausgeblendet.

Sekundärintelligenz

Nicht nur das Wissen muss man seinen Kindern vermitteln, damit sie in Institutionen bestehen (Primärintelligenz). Sie treten in ein Reflexionsfeld ein, in dem es emotionale Interferenzen gibt, bei denen Laune, Sympathie, Befindlichkeiten, unvorhersehbare Regelsetzungen, Zufälle etc. mitunter die Auswahl bestimmen. Sie sind eingelassen in Verfügungen, die sie betreffen und aus denen sie nicht ausbrechen können. Es sind also komplexe Kompetenzen, responsive Reaktionsmöglichkeiten, innere Ruhe, ausgeglichene Emotionalität, die die offensichtlichen Fehlentscheidungen und Schlagseiten innerlich ausgleicht, die sie erwerben müssen. Dazu braucht es stetige Supervision und vor allem ein inneres Vertrauen in die eigene Person.

2023.01.24

Vortrag Michael Wetzel zum Autor-Künstler ist online!

2023.01.23

Mikroskopie-Studien

Heute hatte ich eine halbe Stunde Zeit und nutzte sie für mikroskopische Studien an Kristallen. Diese Objekte sind ausgesprochen interessant. Inmitten ihrer Symmetrien weisen sie einen Formenreichtum auf, eine Gebrochenheit und Detailliertheit. Die Photos zeigen Salzkristalle. Das vorletzte Bild ist ein Zuckerkristall.

Überlegungen zum Digitalstaat (29). Nochmal: ChatGPT

Es liegt eine unglaubliche schöpferische Kraft in dieser Mustergenerierungsmaschine Chat GPT. Natürlich ist da vieles falsch und die Gefahren sind groß, dass irgendjemand etwas Schlimmes sucht und findet. Aber viel bedeutender ist doch der unheimliche Reichtum des Möglichen, der da entsteht. Was mich in den letzten Tagen bei meinen Konversationen mit der Maschine am meisten beeindruckte, waren die Antworten in Bezug auf Korrelationen. Da wurden dann Ergebnisse angezeigt, die ich nirgendwo anders so schnell hätte finden können. Ich fragte zum Beispiel, welche russischen Filme das Thema künstliche Intelligenz behandeln - und erhielt eine hervorragende Liste, mit der ich weiterkomme. Bei Google fand ich nur amerikanische Filme, die überall stehen. Man kann auch fragen, welcher Autor welche Sprachen spricht oder sich wo aufgehalten hat. In diesen zweistelligen oder dreistelligen komplexen Fragen ist Chat GPT einzigartig. Es erweitert den assoziativen Raum wie ein Pharmakon. Man muss nur die richtigen Fragen finden. Davon hängt es ab, die Assoziationen so weit spannen als möglich. Dann segelt man durch den Datenstrom.

Metaphysik der Namen

Ich habe mich gefragt, was die größte Hürde beim Lernen des Japanischen ist. Und lange dachte ich, es sei die ungewöhnliche, oftmals situationsbezogene Grammatik, die unglaubliche Differenzierung oder die Anzahl der Zeichen etc. Aber ich meine, dass es die Metaphysik der Namen ist, die gerade den Deutschen so eine Schwierigkeit bereitet. Im Deutschen gibt es Namen, aber sie haben einen eindeutigen Bezugspol, einen einzigen Sinn. Natürlich gibt es Homonyme etc., aber diese sind dann separiert. Es sind zwei Wortbedeutungen, die nur in einem gleichen Wortlaut erscheinen. Im Japanischen ist es sehr häufig, dass Namen mehrpolig gebraucht werden können, ihr Bedeutungshof ist nicht eingegrenzt, sondern vielschichtig. Man nehme das einfache Beispiel 本, hon, Buch. 本体論 aber, mit dem gleichen Zeichen, also einem Teilnamen, bedeutet Ontologie, hontairon. Wenn man nun versucht, einen Sinn darin zu sehen, dass das Zeichen einmal dies und einmal das meint, geht man fehl. Es liegt kein Sinn darin, sondern eine Konvention. Das gleiche Zeichen kann auch alleine als moto gelesen werden und meint dann Ursprung. Auch können Eigennamen, sogar mit den gleichen Kanjizeichen geschriebene, ganz unterschiedlich ausgesprochen werden. Auch das ist Konvention. Die Zeichen sind logographisch.

2023.01.22

Stanley Kubrick im Interview

Stanley Kubrick über den Atomkrieg und die Frage, ob man aus der Geschichte lernen kann: »People do not react to abstractions. They only react to direct experience.« (Nov 27, 1966 - IFH 112). Homepage Arthur C. Clarke [Link]

Friedrich Kieslers

Film Guild Cinema, New York [Link] [Photo]

Stanley Kubrick als Photograph

... er erzählte gerne Geschichten in einem Bild. Hier einige seiner Photographien aus der Library of Congress [Link]. Vieles ist noch nicht digitalisiert. Welche Schätze liegen da noch? Zu einem Ausstellungsbericht und Auszügen aus dem Katalog geht es [hier].

Wortlisten des Seminars Einführung in die Phänomenologie für Literatur-, Medien- und Filmwissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Roman Ingardens Sprach-, Literatur- und Filmtheorie

Im Seminar Einführung in die Phänomenologie für Literatur-, Medien- und Filmwissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Roman Ingardens Sprach-, Literatur- und Filmtheorie『文学・メディア・映画研究者のための現象学入門:ローマン・インガルデンの言語・文学・映画の理論』haben wir Wortlisten zur Phänomenologie erstellt. Dies sind einige wichtige Begriffe auf Deutsch und Japanisch:
Universum, das 宇宙 uchu
Realität, die 現実 genjitsu
Umwelt, die 環境 kankyō
Kulturwelt, die 文化世界 bunka sekai
Fremdwelt, die 異郷世界 ikyō sekai
Nahwelt, die 近い世界 chikai sekai
Fernwelt, die 遠い世界 tōi sekai

Phänomenologie des Schmeckens
Welche Geschmacksrichtungen gibt es?
süß 甘い amai
salzig しょっぱい shoppai
würzig/scharf 辛い karai
sauer すっぱい suppai
bitter 苦い nigai
würzig 旨み umami

Dimensionen der Zeit. Es gibt in der klassischen Auffassung drei Zeiten:
Vergangenheit Gegenwart Zukunft
過去 kako 現在 genzai 未来 mirai
ist nicht mehr ist ist noch nicht
Gedächtnis Anschauung Erwartung
記憶 kioku 直観 chokkan 期待 kitai

Worfeld »sehen« 見える(mieru)
schauen, blicken, sehen 目をやる (me wo yaru)
sehen, blicken 見る、見やる(miru, miyaru)
wegblicken 目を逸らす(me wo sorasu)
hinblicken 目を向ける(me wo mukeru)
schauen 見る、眺める(miru, nagameru)
seinen Blick abwenden, aus den Augen verlieren 目を離 (me wo hana)
starren 凝視する、じっと見つめる(gyōshisuru, jitto mitsumeru)
glotzen じっと見る(jitto miru)
lugen のぞく、うかがう、見張る(nozoku, ukagau, miharu)
zusehen 眺める(nagameru)
hinsehen 見晴らす(miharasu)
ansehen 見やる(miyaru)
umsehen 見回す(mimawasu)
anschauen 見やる(miyaru)
wegschauen 目を逸らす(me wo sorasu)
hinschauen 見やる(miyaru)
blicken, Ausblick, Überblick 展望 (tenbō)

Eremitisch vs. institutionell, über die zwei Wege der wissenschaftlichen Wirkung

Im Prinzip gibt es nur zwei Wege der wissenschaftlichen Wirkung. Der eine Weg ist der eremitische. Der Wissenschaftler denkt und zieht sich zurück. Er oder sie schreibt ein wichtiges Buch und dieses entfaltet durch seine in ihm dargelegten Ideen Wirkung. Der andere Weg ist der institutionelle. Man erringt institutionelle Spitzenpositionen, hat zwar jetzt wegen zahlreicher repräsentativer Aufgaben kaum mehr Zeit zum selber denken, dafür vergrößert sich der indirekte Wirkungsbereich, indem man Projekte verwirklicht, Arbeiten betreut, Institutionen gründet. Eine Mischung von eremitischer und institutioneller Wirkung ist sicherlich gut.

Patrick Tressets Zeichenmaschinen


Human Study #2 by Patrick Tresset / Artistes & Robots, Grand Palais from Natalianne Boucher on Vimeo [Homepage Patrick Tresset]

2023.01.20

Army Dreamers


Beide Videos gleichzeitig starten. Selenskiy muten.

John Cale

Ein schlechter Song... Santana reißt es raus...

2023.01.18

Das Schrecklich-Erhabene

Die Linien, die von Immanuel Kant (»Die Eigenschaft des Schrecklich-Erhabenen, wenn sie ganz unnatürlich wird, ist abenteuerlich. Unnatürliche Dinge, insofern das Erhabene darin gemeint ist, ob es gleich wenig oder gar nicht angetroffen wird, sind Fratzen.«, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [Link] ), über Georg Büchner (»»Liebster Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen sagte, ist gestorben, ja, gestorben – der Engel!« – »Woher wissen Sie das?« – »Hieroglyphen, Hieroglyphen!« und dann zum Himmel geschaut und wieder: »Ja, gestorben – Hieroglyphen!«, [Link]) bis zu Rainer Maria Rilke (»Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.«, Duineser Elegien, erste Elegie [Link]) verlaufen, ermessen. Dazu Caspar David Friedrichs Das Eismeer[Link].

Hat der 99jährige Kissinger Recht?

Philip Glass, Mad Rush

2023.01.17

Luigina/Gina Lollobrigida (* 4. Juli 1927; † 16. Januar 2023)

Sie hat den Zirkus lange mitgemacht und jeder Rolle eine eigene Note gegeben. Temperamentvoll muss eine Diva sein. Sie war es. Hier in Carol Reeds Trapeze (1956)

Konfliktvermeidung durch Umlenkung der Wünsche

Man kann Konflikte und frustrierende Situationen vermeiden, indem man seine Wünsche umlenkt. Wünsche sind flexibel. Ist etwa mein Schreibtisch belegt, so kann ich ihn aufräumen. Aber ich kann mich auch einfach auf den Boden setzen und dort arbeiten. So nehme ich eine andere Perspektive ein. Würde ich den Tisch aufräumen, würde es mich Zeit kosten, die ich vielleicht nicht habe. Es würde etwas herunterfallen etc. Solche multipolaren Situationen gibt es häufig, gerade auch in der Organisation von Veranstaltungen. Wenn man dann die eigenen Wünsche etwas flexibel handhabt, kann man sehr schnell Kompromisse finden und Grenzlinien überwinden. Es gibt zwar einen Hauptwunsch, aber auch dieser hat immer kleine Nachteile. Die Nebenwünsche erfüllen nicht das, was ich mir vorstelle, sind aber oft auch interessant. Die Welt ist nicht binär aufteilbar, es gibt immer Nuancen, daher navigiert man besser in diesen Möglichkeitsräumen.

2023.01.16

Workshop Kulturelle Praktiken von Schrift

Am 4. und 5. November 2023 findet an der Meiji Universität in Tōkyō der Workshop Kulturelle Praktiken von Schrift statt. Eine ausführliche Beschreibung der möglichen Sektionen finden Sie auf der Website. Die aktuell veröffentlichten Inhalte werden natürlich weiterentwickelt und angepasst [Link]. Einreichungen sind bis 30. April 2023 möglich. Die Einzelvorträge sollen eine Länge von 20 Minuten nicht überschreiten; vorgesehen ist eine anschließende Diskussion von jeweils 10 Minuten. Abstracts im Umfang von max. einer DIN-A4-Seite (ca. 2500 Zeichen inkl. Leerzeichen) können ab sofort (unter Angabe der E-Mail-Adresse, Affiliation und Website oder Kurzbio-/bibliografie) eingereicht werden. Eine Veröffentlichung der Beiträge ist vorgesehen.

Überlegungen zum Digitalstaat (28). Das Unheimliche steht vor unser Augen. Meine Erfahrungen mit Chat-GPT

Zur ›künstlichen Intelligenz‹ Chat-GPT der Firma Open AI wurde in den letzten Wochen viel geschrieben [Link]. Ich möchte meine Ideen schildern. Zunächst glaube ich, dass diese Software optimiert werden wird und den klassischen Suchmaschinen Konkurrenz macht. Auch die Suchmaschinen arbeiten mit KI, aber diese besteht in einer Verlinkung zu pluralen Internet-Dokumenten, von diesen externen zugelieferten Daten ist Google abhängig. Chat-GPT aber ist autonom und zentral, verlinkt nicht, ist auch nicht mit dem Internet verbunden, sondern hat dieses nur als Trainingsmaterial des neuronalen Netzes verwendet. Man weiß nicht, welche Quellen da genau benutzt wurden und davon hängt viel ab. Aber das, was die KI schreibt, ist keine Kopie von Texten aus dem Netz, sondern ein generiertes Sprachmuster, das auf ein Fragemuster hin erzeugt wird. Wohlgemerkt: Es ist keine Antwort, die KI versteht den Sinn nicht, sondern gleicht nur Wahrscheinlichkeiten von Mustern ab und generiert Bezüge. Derzeit funktioniert das Programm nur mit Texten, wie früher das gesamte Internet auch. Aber es ist leicht vorstellbar, dass man es auf eine Bild-, Sprach- und Musikerzeugung hin erweitert und diese Unterfunktionen kombiniert, dann wird es sich einem Avatar annähern. In Sachen Bilderzeugung ist man bei OpenAI auch schon dabei, mit Dall-e [Link]. Die Konkurrenz zur Suchmaschine besteht darin, dass es einfacher ist, eine Frage einzugeben und man dann scheinbar eine passende ›Antwort‹ erhält, die man nochmals vertiefen lassen kann, erweitern etc. Für die Alltagsanwendung scheint dann Chat-GPT viel besser und effektiver zu sein als eine Suchmaschine, wo ich ja die Ergebnisse selbst bewerten muss. Und da werden sicherlich die gewöhnlichen User diesen Weg wählen. Sie wollen im Internet eine Frage beantwortet haben, das bietet die KI optimierter und passender als die Puzzleteile der Suchergebnisse. Chat-GPT ist also momentan eine Art lebendiges Konversationslexikon. Wer natürlich fachlich etwas sucht, wird die Quellen unbedingt kennen wollen, die das Wissen erst zertifizieren. Die Frage ist natürlich, was passieren würde, wenn Chat-GPT zu einem Standard würde, etwa wie der Brockhaus. Dann wäre es sehr schwierig, die Ergebnisse zu kritisieren oder zu hinterfragen, sie hätten institutionelles Gewicht.
Zunächst einmal ist es faszinierend zu sehen, dass Chat-GPT die allermeisten Sätze, und das in mehreren Sprachen (Japanisch, Deutsch und Englisch habe ich geprüft) grammatikalisch richtig schreibt und auch Aussagesätze in Fragen umformulieren kann. Übersetzungen sind kein Problem:
Übersetze den Satz "Ich lese ein Buch." in zwanzig Sprachen.
Es folgen Übersetzungen in zwanzig Sprachen. Auch mehrdimensionale Fragen werden unglaublich gut prozessiert. Auf meine Frage
Schreibe eine Science Fiction Geschichte von einem Vogel, der zum Mond fliegt. Schreibe fünf Sätze.
wird eine ganze Geschichte generiert. Dann kann die KI aus der Geschichte auch einen Dialog machen, also ein Theaterstück. Fehlerfrei. Man müsste nochmal prüfen, wie typisiert das Ganze ist. Aber ich finde, dass diese Geschichte schon wirklich gelungen ist und man sie einem Kind vorlesen könnte. Auch meine Bitte, einen Songtext über die Mondlandung zu schreiben wird ganz gut beantwortet. Auch Zusammenfassungen macht die KI:
Fasse Tolstois Krieg und Frieden in einem Satz zusammen.
Die Antwort passt. Ein großes Problem der KI ist, dass sie nichts versteht und manchmal das Gegenteil dessen prozessiert, was richtig wäre:
Was ist "Zeitraffung"?
Teilweise stimmt das, aber »Zum Beispiel kann die Zeitraffung verwendet werden, um eine schnelle Bewegung langsamer erscheinen zu lassen« ist einfach Nonsense. Und Chat-GPT bemerkt den Widerspruch natürlich nicht. Das ist mir öfter aufgefallen. Problematisch ist eben, dass die KI nicht wie wir Menschen in einer Lebenswelt verortet ist. Einfachste Zusammenhänge können nicht generiert werden. Widerspricht man dann bei richtigen Antworten, bringt man die KI vollkommen durcheinander. Diese lebensweltlichen Bezüge haben eine eigene Signatur, die nur sehr schwer simuliert werden kann. Bekanntlich sind links und rechts Anschauungsformen, die eben menschlich sind und die man nicht berechnen kann, genauso wenig wie das Bewusstsein:
Wenn ich vor dem Spiegel meine linke Hand hebe, erscheint diese dann links oder rechts?
Es folgt eine Antwort mit Hilfe der Optik, was aber bekanntlich in Paradoxien führt, man denke an René Descartes Schaubilder. Aber die Antwort entspricht der Anschauung. Meine Nachfrage verwirrt die KI nicht:
Also erscheint mein Kopf, wenn ich mich im Spiegel sehe, auf dem Boden, richtig?
Erst als ich widerspreche und die KI belüge, Unsinn erzähle, sagt die KI das Gegenteil von dem, was sie vorher behauptet hat:
Das stimmt nicht! Wenn ich mich im Spiegel sehe, erscheint mein Kopf unten! Meine Füße sind dann oben, eben spiegelbildlich!
Es folgt eine Entschuldigung der KI und die Behauptung, dass mein Kopf im Spiegel auf der unteren Seite (!) erscheinen werde. Die KI kann meine Lüge also nicht erkennen und übernimmt diese als gegeben. Welche fatalen Folgen kann das haben, wenn diese Aussage in die Realwelt driftet! Ist nicht die ganze Debatte der Verschwörungstheorien ein Seiteneffekt der KI's? Die KI hat kein Gespür dafür, dass Wahrheit ein hohes Gut ist, sie ist nicht irritiert, wenn sie sich selbst widerspricht und empfindet es überhaupt nicht schlimm, belogen zu werden.
Ein großes Problem der KI ist auch, dass man Fragen eingeben kann, die etwa Verbrechen betreffen oder Betrug. Es muss also eine Sicherheitsschranke geben, dass die KI keine Antwort ausgibt auf die Frage, wie man eine Bank überfällt oder eine Atombombe baut etc. Aber diese Fragen dürfen auch nicht fiktiv beantwortet werden, etwa wenn man sagt, man wolle eine Geschichte über etwas hören. Diese Zensur aber kann nur von Menschen unternommen werden, händisch. Das ist meiner Meinung nach das größte Problem an der Sache. Wer will wissen, welche schlechten Dinge man mit der KI anstellen kann? Positiv gesprochen ist es eine Antwortmaschine, negativ gesagt aber auch eine Betrugsmaschine, die Texte eines Menschen plagiiert. Man hat den Weg gewählt, sehr vorsichtig zu sein. Aber das Wissen ist ja in der KI vorhanden. Es entsteht so ein digitales Unbewusstes, das eigene Regeln hat, die wir nicht kennen (zum Begriff siehe die Ausführungen von Konrad Becker [Link], siehe hierzu auch die Homepage des World-Information Institute [Link]). Wer der KI dieses Unbewusste entlockt, traumhaft vielleicht, wird Übles anstellen können. Ist es ausgeschlossen, dass Menschen mit krimineller Energie eine KI ohne diese Zensur programmieren/trainieren? Dann wäre es meiner Meinung nach unglaublich wichtig, eine abgeschottete KI zu haben, die nur einer kleinen Gruppe zugänglich ist, die auch diesen Fall simulieren kann. Besser wäre es, man würde warten mit dem Einsatz der KI. Die Fortschritte sind so groß, dass das Risiko unkalkulierbar ist.
Hinzu kommt etwas, was ich Biasing nennen möchte, das ist eine gewisse Färbung. Ich meine, dass die KI eine gewisse Stimmung vermittelt. Manche Sätze scheinen mir eher dystopisch, negativ zu sein. Egal, wie man die KI einstellt, sie wird immer eine Gefühlsfärbung in die Außenwelt geben. Stanley Kubrick hatte in seinem unglaublichen Film 2001. A Space Odyssey (1968) eine KI namens HAL dargestellt. Es zeichnet diese aus, was auch bei Chat-GPT auffällt. Die KI ist unendlich geduldig. Man kann es auch anders formulieren: Sie geht mit der Lebenszeit der Benutzerinnen und Benutzer verschwenderisch um. Die Antworten sind manchmal viel zu lang, sie gleichen Gesetzestexten. Sie kann keine Alltagssprache, fasst sich nicht kurz, weil sie nicht spürt, was wichtig ist. Würde man ihr das beibringen, so wäre dies ethisch fragwürdig, warum man eine Maschine schlechter macht, als sie eigentlich ist.
Ein weiteres Problem ist die Konzentration bei einem Konzern. Man muss sich mit Telefonnummer registrieren. Niemand weiß, was man zitieren darf. Die Angst in den Medien ist offenbar groß, denn lange Protokolle, die man veröffentlichen könnte, habe ich in den Internet-Zeitschriften nicht gefunden. Und so halte ich es auch, indem ich lieber die schönen Songs, Gedichte, Geschichten nicht veröffentliche.
Man kann vieles anstellen, Korrellationen erfragen, welche japanischen Schauspieler in Deutschland bekannt sind oder wie viele Deutsche in Tōkyō leben und erhält zumindest plausible Antworten. Auch programmieren kann die KI, Programmcodes in Javascript und HTML und wer weiß noch in welcher anderen Sprache können generiert werden. Das Unheimliche steht vor unser Augen.

Sprache und Verantwortung

Im Begriff Verant-wortung steckt es schon, man verantwortet Handlungen, indem man diese sprachlich begründen und erklären kann. Es gibt aber auch ein interessantes Phänomen. Werden in Gruppen, in Gremien und Kommissionen Entscheidungen getroffen, so gibt es manchmal Kontroversen. Derjenige, der in diesen Momenten für eine bestimmte Entscheidung wirbt, wird als der Verursacher der Folgen betrachtet. Sind diese positiv, so wird dies in der Regel als Normalfall betrachtet. Wenn aber die Folgen negativ sind, so wird sich meistens nicht die Gruppe als Ganze in der Verantwortung sehen (obwohl es vielleicht zu einer Abstimmung kam), sondern sie teilt sich. Dann wird derjenige, der die Meinung vertrat, als Urheber der negativen Konsequenzen betrachtet. Man verschmilzt gewissermaßen Sprache, Zukunft, Gefühl und unterstellt eine Kausalstruktur, wo doch in Wirklichkeit die Horizonte offen waren.

Peter Lehmann Barossa Portrait 2019, Cabernet Sauvignon

Dieser australische Rotwein ist wirklich großartig. Die besten Rotweine sind meiner Meinung nach die italienischen, dann die argentinischen und dann die spanischen. Dieser schmeckt wie ein kräftiger chilenischer Wein, gemischt mit dem etwas leichteren argentinischen, hat eine angenehme Intensität. Man kann ihn, so paradox es klingt, als herb-süss beschreiben, wobei der Geschmack wie eine Melodie im Gaumen schwebt und sich lange hält. Es gibt da eine komplexe Zeitschichtung von der Frucht zum Erdigen und ein schöner Nachhall wie in guten Konzertsälen. Dieser Wein ist ein spielerisches Geschmackserlebnis.

2023.01.15

Stanley Kubricks Eyes Wide Shut

Gerade suche ich Literatur zu Stanley Kubricks Eyes Wide Shut und fand die interessante Studie im Open Access Verhüllte Schaulust von Julia Freytag [Link]. Ich wusste nicht, dass G.W. Pabst auch eine Verfilmung von Arthur Schnitzlers Traumnovelle plante. Die Tagebücher Schnitzlers sowie seine Briefe sind im Internet ganz wunderbar ediert. Großartige Arbeit! [Link Tagebücher][Link Briefe]
Da gibt es noch Hilge Landweers Arbeit Scham und Macht (1999). Ein Gespräch von Landweer mit Michel Friedman ist auf Youtube [Link]. Weitere sehr lesenswerte Online-Publikationen von Claudia Benthien über Körperlichkeit und Gefühl im OA hier [Link]

2023.01.12

Jeff Beck (*24.6.1944 †10.1.2023)

Bis vor kurzem ging er noch mit Johnny Depp auf Tournee. Großartiger Gitarrist. Ich mag seinen Sound, das Spiel unnachahmlich.

Was wäre, wenn...

Gerade schreibe ich über Edgar Reitz Die Zweite Heimat und frage mich, was ich getan hätte, wenn ich zu jener Zeit, in den 1960er Jahren, gelebt hätte. Das ist nicht einfach. Aber die Welt ist doch seitdem natürlich viel differenzierter geworden und komfortabler. Aber sie ist auch ärmer geworden an sozialem Vertrauen und kollektiver Aktivität. Spätestens seit Corona hat sich das nochmal beschleunigt, war aber Jahrzehnte vorher schon präsent. Die Menschen leben in ihr isoliert wie in einem Verlies, das sie vor Krankheit schützen soll. Die meisten gestehen sich das nicht ein. Aber man merkt es an den kleinsten Gesten, wie sie sich fühlen. Ich hätte sicherlich die Doors gehört und Jimi Hendrix, wie jetzt auch, Luigi Nono, wie jetzt auch. Aber was hätte ich gemacht? Wen hätte ich getroffen? Wenn ich in Tōkyō gelebt hätte, wie sähe die Stadt aus? Die Menschen waren doch anders drauf. Sie sprachen miteinander, feierten, machten Partys. Es war ein anderes Leben. Man müsste nochmal in Ian Burumas A Tōkyō Romance. A Memoir (NY 2018) hineinschauen. Da würde man wahrscheinlich Ideen bekommen, was man getan hätte.

2023.01.10

Roppongi Crossing im Mori Arts Center

Die Ausstellung Roppongi Crossing (1.12.2022-26.3.2023) [Link] ist eine Wunderkammer. Hier einige interessante Arbeiten, die ich sehr mochte.
Aoki Chies (* 1981) [Link] Skulpturen erinnern an Luigi Colanis Designentwürfe. Sie sind edel und zeigen schlafende, ruhende und fallende Menschen, die zu Klumpen mutieren. So etwa die Body-Skulpturen.
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Aoki Chie: Body
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Im Raum mit Ishiuchi Miyakos (* 1947) [Link] Photographien hielt ich mich gerne auf. Besonders die Yokosuka Story aus den 1970er Jahren fand ich interessant, auch die anderen Arbeiten, die ihre frühere Wohnung und deren Nachbarschaft zeigen. Es gibt da eine ehrliche Stimmung in den Bildern.
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Ishiuchi Miyako: 1-9-4-7-/Moving Away
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Das Side Core/Everyday Holiday Squad-Kollektiv [Link] hat eine verspielte Neonlicht-Installation mit einem Video verbunden. Diese Installation besteht aus Warnlichtern, die es hier ja so viele gibt. Es entstehen merkwürdige Zeichen und zeitliche Schleifen wie bei Nam June Paik, das hat sprichwörtlich Energie.
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Side Core/Everyday Holiday Squad: rode work ver.tokyo
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Ein Künstler, dessen Arbeiten mich ebenso beeindruckten, waren die Öl- und Acrylmalereien von Inose Naoya (1988) [Link]. Das sind Bilder wie aus einem Science-Fiction-Film, kitschig wie ein Perry Rhodan-Cover, überzeugend wie eine Nature-Illustration und vieldimensional wie ein komplexes Videospiel. Sicherlich hat er sich mit romantischer Malerei beschäftigt, irgendwie erinnert mich das auch an Gerhard Richters Farbschattierungen seiner Sils Maria-Serie.
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Inose Naoya: Plate 1 blue and white X Homage for Richard Diebenkorn (2021), Vacation on the Blue (2021), Romantic Depression (2020)
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Nachlese Odaiba

Hier ein paar Endlosschleifen-Gifs, die ich letzte Woche in Odaiba machte. Leider spielen nicht alle Browser diese fehlerlos ab...
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Achtungsverlust, Prestige und das Problem der Philanthropie

Das Problem der Philantropie ist nicht nur die bloße Einstellung der Menschen, dass es scheinbar nur wenige gibt, die anderen helfen wollen. Es gibt auch ein Gefälle in der Achtung der Anderen. Ein Beispiel: Ein reicher Unternehmer hilft einem armen Menschen vor den Augen seiner Unternehmerfreunde. Er wird, wenn er dies nicht in Distanz, sondern in Hingabe an die Armen macht, in deren Achtung sinken. Das liegt daran, dass das Prestige sich selbst schützt. Der Aufstieg ist mit einem bestimmten Habitus und Anzeichen des Prestiges verbunden, er sichert die Stellung symbolisch ab. Die Assoziation mit Niederen gefährdet daher dieses fragile Gleichgewicht. Der Achtungsverlust ist die Kehrseite des Prestiges. Nur wenigen gelingt es, beides zu verbinden. Diese genießen, vor allem nach ihrem Tod, ein hohes Ansehen.

Brasilia, das war mal eine Utopie von Oscar Niemeyer

Aber was ist daraus geworden?

2023.01.05

Open-Source-Software gefährdet durch Kontrollmanie der EU

Stefan Kremp schreibt am 27.12.2022 in Heise online: »Die EU-Verordnung zum Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch würde mit Kernvorhaben wie der Chatkontrolle nicht nur Grundrechte aushebeln, sondern auch freie Software ausbremsen und die Open-Source-Community hart treffen. Auf diesen noch unterbeleuchteten Aspekt in der Debatte über das Vorhaben der EU-Kommission und die damit verknüpfte ›akute Gefahr‹ haben Entwickler und Vertreter der Szene hingewiesen.« [Link]. Man kann nur hoffen, dass sich die Vernunft gegenüber der Kontrollmanie der EU durchsetzt. Sonst ist auch die letzte noch demokratische Linux-Infrastruktur massiv gefährdet. Dann blieben nur noch drei große Unternehmen mit ihren Betriebssystemen (Google, Microsoft, Apple). Aber die Tendenz der Zensur und Kontrolle besteht schon seit Jahrzehnten. In meinem neuen Buch zum Digitalstaat werde ich diese Mechanismen herausarbeiten.

2023.01.04

Tausend Sonnen in Odaiba


Zeichnung auf der kleinen Insel Odaibakoen. Sie diente früher der Verteidigung Japans vor der amerikanischen Flotte.

Floris Weber über Hypnose und Psychedelika

2023.01.03

Alfred Hitchcocks Vertigo (1958) nach langen Jahren wieder gesehen

Und immer noch fasziniert mich dieser Film wegen seines Detailreichtums und diesem ständigen Changieren zwischen Real- und Traumwelt. Man müsste einmal Kim Novaks Auftreten genauer analysieren, ihr Make-Up, ihre Kostüme, die Frisur, die Schuhe, ihr ständiges Wegblicken etc. Das sind alles Zitate, so wie sie der Film im Museum zeigt und sie aus dem Bild zitiert, so zitiert Hitchcock in ihrem Auftreten die Jahrhunderte, aber auch bestimmte Gefühlslagen.

2023.01.01

Ein frohes neues Jahr!

Lieber Leserinnen und Leser dieser Seite,
ich wünsche Ihnen ein frohes, gesundes, glückliches, erfolgreiches und ruhiges neues Jahr! 明けまして御目出度う!
Andreas Becker

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In meiner Arbeit Gefühl und Alterität unternehme ich den Versuch, in philosophischen Miniaturen alltägliche Gefühlsmomente darzustellen. Das Buchprojekt im Büchner-Verlag ist als Serie angelegt. Veröffentlicht sind bereits 1.999 Notizen. Die Miniaturen sind nicht abgeschlossen. Man soll sie diskutieren, weiterdenken, hinterfragen und ergänzen. Auf dieser Webseite veröffentliche ich einige Fragmente, die dann in den dritten Band einfließen werden. Da ich unter keinem Zeitdruck stehe, warte ich so lange, bis ich meine, der Band sei nun reif für die Publikation. Wenn Sie mir eine E-Mail schreiben möchten, erreichen Sie mich unter Andreas Becker, beckerx[at]gmx.de. Zur meiner persönlichen Homepage geht es hier https://www.zeitrafferfilm.de/.
Hier finden Sie die Seite des Büchner-Verlags. Hier finden Sie einen Überblick über alle meine Projekte im Büchner-Verlag. Die bislang entstandenen Youtube-Videos:

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